Die Leiden des jungen Werthers

DDR 1976 Spielfilm

Menschen, keine hehren Gestalten

"Die Leiden des jungen Werthers"



Michael Hanisch, Filmspiegel, Berlin/DDR, Nr. 19, 1976


"Das ist gerade vorhin Null gemeldet worden. Solche Titel werden am Tage zehnmal verlangt", sagte mir die Mitarbeiterin der Berliner Stadtbibliothek, als ich dort Goethes "Leiden des jungen Werthers" ausleihen wollte. Da dieser Briefroman nicht zum Lehrplan der Oberschulen gehört, kann man davon ausgehen, daß dieses über 200 Jahre alte Buch, das bereits beim erstmaligen Erscheinen ein Bestseller war, heute noch genauso gefragt ist wie damals.

Egon Günthers Film verstehe ich auch als eine Antwort auf die Frage, worin die Popularität des Buches heute, zwei Gesellschaftsordnungen später, liegt. Der Film ist Günthers Interpretation von Goethes Werk. Hier übermittelt uns ein Filmemacher unserer Tage seine Sicht auf das Werk. Diese Sicht des Regisseurs mag nicht mit der Sicht jedes Zuschauers übereinstimmen. (…)

Ohne den Text zu vergewaltigen, zeigt der Film einen auf der einen Seite fast burschikosen, auf der anderen Seite aber unendlich leidenden Werther. Günther und die Szenaristin Helga Schütz schaffen es, dieses doppelte Leiden des jungen Werther ausbalanciert bewußt werden zu lassen. Die Leiden des jungen Werther – das ist sein Leiden an der unglücklichen Liebe zu Charlotte, das ist aber auch sein Leiden über gesellschaftliche Verhältnisse in Deutschland am Vorabend der bürgerlichen Revolution. Sein Leiden an einer Umwelt, die die gegebenen Verhältnisse akzeptiert, die nicht mehr als teilnahmslos zusehen kann, wie Menschen kaputt gehen, wie Bücher in die Flammen geworfen werden. Werther ist jung, überschwenglich, ein Maximalist. Und er ist für die Etablierten ein "Spinner".



Trotz aller kritischen Distanz zu diesem Leidenden führt Günther unsere Sympathie zu Werther hin. Der Gegenpol – das sind die anderen, die Hofschranzen (ein. herrliches Panorama dieser Mumien wird uns vorgeführt), die Reste einer agonisierenden Klasse, das ist aber auch Albert. Gewiß ein "braver Mann", solid, tüchtig, der Lotte und ihren "Kindern" eine bessere Basis für das weitere Leben bieten kann als der schwärmerische Werther. Der Film läßt aber auch bewußt werden, daß Werther, der Schwärmer, der Wertvollere ist. Für Albert muß "alles in der Ordnung, in dem vorgeschriebenen Gang gehen". Werther stellt alles in Frage. Dennoch wertet der Film Albert nicht ab. Sein Pragmatismus bleibt als eine Lebens-Maxime diskussionswürdig. (…)

Günthers Filme sind alle bewußt als Aufforderung zur Diskussion angelegt. Sie sind nicht harmonisch "wohlausgewogen". So ist auch dieser Film eine positive Provokation an den Zuschauer, die wir aufgreifen sollten. Auch eine Herausforderung zum Vergleich. Dieser DEFA-Film ist auch nicht, wie der Rezensent der Tageszeitung kürzlich annahm, die einzige Film-Adaption des Romans. 1938 drehten deutsche Emigranten in Paris "Le roman de Werther". Regisseur Max Ophüls machte darin Lotte zur eigentlichen Hauptgestalt. Die Musik komponierte übrigens Paul Dessau.

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