Die Unberührbare

Deutschland 1999/2000 Spielfilm

Die Unberührbare

Oskar Roehler berichtet von den letzten Tagen im Leben seiner Mutter Gisela Elsner


Veronika Rall, epd Film, Nr. 5, 02.05.2000

Was für ein Wurf! So gewagt, so präzise, dass man Oskar Roehler nur gratulieren mag. Mit "Silvester Countdown" (1997) und "Gierig" (1998) hat er zwar bereits zwei Filme realisiert, die sich jenseits der gängigen, kleinkarierten Erfolgssucht bewegen. Doch erst in "Die Unberührbare" findet sein Stil auch eine Geschichte, die mit der Art, wie sie erzählt wird, Schritt halten kann.

Roehler hat alles gewagt, indem er von den letzten Tagen im Leben seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner, berichtet. Heute kaum mehr bekannt, war sie eine der schillerndsten Figuren des deutschen Literaturbetriebs der sechziger und siebziger Jahre. Mit ihren ersten beiden Romanen "Die Riesenzwerge" (1964) und "Der Nachwuchs"; (1968) " erwarb sie sich den Ruf einer unnachsichtigen, mehr noch: schockierenden Kritikerin der Mentalität zeitgenössischer Mief- und Muffbürger", urteilte die FAZ. Anfang der achtziger Jahre begann der Abstieg, die bösen Verrisse seitens der Presse, der Streit mit dem Rowohlt-Verlag (in dessen Namen der heutige Staatsminister Naumann agierte), die zunehmende gesellschaftliche Isolation. Der Fall der Mauer schließlich zog offensichtlich den des psychischen Gerüstes nach sich, das sie sich geschaffen hatte: 1992 nahm sie sich mit einem Sturz aus dem Fenster einer Klinik das Leben.

"Ein böses Weib, die Elsner, eigentlich nur ein böses Auge", schrieb Christa Rotzoll 1977 in der "Süddeutschen", und es ist dieses Auge, das ihr Sohn nun in den Fokus eines artifiziellen, stilisierten Schwarzweiß-Films nimmt. Von den letzten Tagen eines Menschen zu berichten, das heißt kürzen, verdichten, kristallisieren. Der erste und wichtigste Kristallisationspunkt des Films ist Hannelore Elsner (nicht mit Gisela Elsner verwandt), die mit einzigartigem Mut ihr ganzes ungeschminktes, gealtertes Gesicht hinhält, nur eine Zigarette liegt unentwegt zwischen ihr und dem Kameraauge. Trotzdem lässt sich in diesem Gesicht lesen wie in einem Buch: Falten wie bedruckte Seiten; ein Zucken um die Lippen wie Kapitel; ein Augenaufschlag wie eine besonders gelungene Formulierung, die im Kopf des Lesers bleibt. Dabei ist das Ganze alles andere als eindeutig, Zustimmung und Ablehnung, Kälte und Wärme, Berührbarkeit und Unberührbarkeit liegen nur einen Atemzug auseinander.

Aber auch die Dramaturgie des Films verdichtet, wo sie muss und wo sie kann. Die Eingangssequenz zeigt eine Frau in einem schicken Bungalow, die aus lauter Verzweiflung über die Mauerfallberichte im Fernsehen noch einmal schnell in eine Dior-Boutique eilt und sich einen extravaganten Mantel kauft. Mit diesem und einer massiven Perücke bewehrt wagt sich Hanna Flanders (wie der Film die Elsner nennt) sogar nach Berlin, doch weder die Begegnung mit dem Liebhaber, noch die mit dem Sohn (hier persifliert sich Roehler in Gestalt von Lars Rudolph) oder gar einem Callboy stellt eine Aufgehobenheit her. Also weiter in den Osten, nach Marzahn, der Begegnung in einer Kneipe ("Hallo, ich bin der Dieter") folgt die mit einer klassischen Ostfamilie, Hanna wird ins Kinderbett verfrachtet und kann endlich einmal ausschlafen. Und dann? Ja, dann noch eine Konfrontation mit den Eltern, eine andere mit dem Ex-Ehemann Bruno (gemeint ist der Vater von Oskar, Klaus Roehler, lange Jahre Lektor des Luchterhand-Verlages) und dann der Zusammenbruch, mitten auf der Maximilianstraße in München, eine Klinik, eine Diagnose und – Schluss.

Es ist falsch anzunehmen, "Die Unberührbare" lege den Finger "nur" auf eine persönliche Wunde, dazu war Gisela Elsner vielleicht auch schon immer eine zu öffentliche, zu artifizielle Person. "Du verwechselst mich mit meinem Make-up", sagt sie einmal zu ihrem Ex-Ehemann, doch dem Sohn gelingt es, nicht nur das Bild der Mutter abzuschminken, sondern auch das der Realität, in der sie sich bewegte. Endlich einmal schafft es ein deutscher Spielfilm, sich aus der West-Perspektive mit der Zeit der Wende auseinanderzusetzen, in der die Linke sich in Ohnmachtserklärungen erging, die bundesdeutschen Feuilletons nichts weiter taten, als die Verstrickungen der Ost-Schriftsteller zu sezieren, und der Konservativismus der Ära Kohl fröhliche Urstände feierte. Und endlich einmal spürt man etwas von der Depression, von dem Schock (als Kehrseite der allgemeinen Euphorie), den der Fall der Mauer im deutschen Westen auslöste.

Roehler folgt der Kunstgestalt Hanna Flanders wie einem Seismographen durch die deutsche Geschichte zweier Jahre, und plötzlich scheint diese Frau nicht länger "unberührbar", sondern umgekehrt, zu berührbar. "Das Berührungsverbot" hatte Gisela Elsner ihren dritten, Aufsehen erregenden Roman genannt, Oskar Roehler hat es geschafft, dieses Verbot zu übertreten und einer versteckten, maskierten Person nahe zu treten. Dass er dabei weder sentimental (von der Szene mit dem Ex-Ehemann, seinem Vater also, dem auch der Film gewidmet ist, einmal abgesehen) noch decouvrierend verfährt, ist bewundernswert.

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