Palermo oder Wolfsburg
Die toten Sonnen des Nordens
Peter W. Jansen, TIP Magazin, Nr. 7, 1980
Für seinen knapp dreistündigen Film erhielt Regisseur Werner Schroeter während der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären.
Es gibt eine Ansicht, die meint, es seien zwei Filme, die Werner Schroeter gemacht hat: "Palermo oder Wolfsburg" als Palermo plus Wolfsburg. Palermo hier und Wolfsburg dort. Palermo oder das Leben und Wolfsburg oder der Tod. Die Wahrheit ist die Wahrheit dieses Films, der die Lebenden mit den Toten konfrontiert und die Toten mit den Lebenden, die Wirklichkeit des Südens mit unserer nördlich-synthetischen Welt.
Um den Tod geht es schon mitten im Leben, am Anfang, wenn der Film die Laienaufführung eines Passionsspiels in Palma de Montechiaro zeigt oder die Erinnerungsfeier im Kerzenlicht für die toten Komponisten. Dem Tod geweiht ist gerade auch das Neue, sind die Neubauruinen, die nie Leben beherbergen werden, weil die Bauherren nach Deutschland ausgewandert sind oder aus dem Norden kein Geld mehr schicken. Erst allmählich bringt der Film seinen Helden ins Bild, er ist zunächst wie in einem Dokumentarfilm nur einer unterschiedslos unter vielen. Er wird dann, wenn die Szene von Sizilien nach Wolfsburg gewechselt hat, wenn nach dem klaren Licht des Südens das Neonlicht, die künstlichen toten Sonnen des Nordens und industrieller Kultur mit fahlem Schein die Szene beleuchten, er wird der Erinneningsträger sein, an dem sich Rückblenden festmachen und reiben: das Passionsspiel vom Anfang, ein Traum von der Kirche, in rötliches Licht getaucht, das weite freie Land und eine Prozession, die zugleich eine filmische Erinnerung an "Padre Padrone" der Brüder Taviani ist. Durch Montage ist verklammert, was zusammengehört, das Leben und der Tod. die Selbsterfahrung des Südens im Norden, für den es zur Selbsterfahrung Zeit geworden ist.
Aber man greift "Palermo oder Wolfsburg" zu kurz, wenn man den Film nur als Darstellung des Nord-Süd-Gegensatzes, des Konflikts zweier Kulturen sieht. Es geht zwar um den 17jährigen Sizilianer Nicola Zarbo, der aus der Armut des Südens in den reichen Norden kommt (der sich am Süden bereichert hat, ihn weiter depraviert und nun auch Nicola enteignen wird), aber es geht zugleich auch um die Sprachfähigkeit des Kinos. Es geht um einen Doppelmord, den der doppelt sprachlose Nicola in Wolfsburg begehen wird, aber es geht auch um das immer wieder neu zu wagende Wagnis, die Phantasie der Realität und die Realität der Phantasie zur Sprache zu bringen. Es geht um den Prozeß, den alles, was Wolfsburg heißt, gegen den Doppelmörder führt, aber es geht auch um die Formulierung der Groteske, die ein solcher Prozeß am Leben vorbei bedeutet.
Nicola kennt Deutschland lange, bevor er es kennenlernt. Deutschland ist anwesend in den rudimentären Neubauten und rudimentären Familien in Palma di Montechiaro, in der kleinen Frau Rosa, die sich nach ihrem Mann im Norden sehnt (und ihn als Toten nach Hause bringen wird), in der Hoffnung Nicolas, dort das Geld zu verdienen, das sein Vater, ein verzweifelter Trinker, braucht, um das Land zu erwerben, das er lange schon bearbeitet. Der Abschied führt ihn und uns noch einmal durch sein Leben, das hier zu Hause ist, in den Feldern und im Dorf, bei den Freunden in der Taverne, im Lied der Frauen über den Platz und die Straßen hinweg, in der Kirche und beim Pfarrer, bei einem kauzigen Dorfältesten oder im Versteck, das Nicolas armselige Kindheitsgeheimnisse birgt.
Wolfsburg dagegen ist das lichtlose Fremde schlechthin, sind die Schornsteine und Werkhallen und das VW-Zeichen, ein Brandmal künstlicher Leblosigkeit, sind der Lärm und eine Sprache, der sich Nicola lange widersetzt. Endlich hat er eine Anmutung von Heimat gefunden im 4-Bett-Zimmer mit einem Sarden, einem Neapolitaner und einem verwirrten kleinen Mann, der nur noch der Erinnerung an seine Frau und seine Kinder lebt. Bald lernt er die hilfreiche Giovanna kennen, Besitzerin einer kleinen Bar, und sehr schnell die vielleicht 16jährige Brigitte, Lehrling in einer Tankstelle. Doch das selbstbewußte blonde Mädchen, selbst erkaltet in der Welt des Nutzens und der Kostennutzenrechnungen, hat nichts anderes mit ihm im Sinn, als seine Verliebtheit kalt zu nutzen: um zwei deutsche Freunde scharf zu machen. Als Nicola das erfährt und ihn die Burschen, betrunken, zum Narren halten, ersticht er beide mit dem Messer, das er nicht aus der Hand zu legen bereit ist. während er starr vor den Toten hockt. Er bewacht sein Eigentum, sein Eigenstes hier, seine Tat.
Zurückgeworfen auf sich selbst, in Sprachlosigkeit und autistische Erstarrung, ein Fremder in dieser fremden Welt, steht Nicola dem Strafprozeß gegenüber, der sich als Ritual vollzieht, auf den eigenen zeremoniellen Vollzug gerichtet, nicht auf den Menschen, um den es dem Anschein nach geht. Es ist dennoch nicht Nicolas Perspektive und Blick auf das, was geschieht, wenn sich der Prozeß zur Farce, Groteske, Oper verzerrt, wenn die Sprechenden in einen Singsang fallen wie in eine fromme Litanei, Zeugen sich schwul in den Armen liegen, die Strafverteidigerin auf den Schoß des Anklägers klettert, Brigitte barbusig und blutüberströmt aber strahlend erscheint, die Mutter des einen Gemordeten die Mutter des anderen mit Zärtlichkeiten überfällt, und Richter und Schöffen, zur Pyramide getürmt, auf dem Richtertisch zu schlafen scheinen.
Diese sprachlichen Zeichen sind die Sprache des Filmemachers selbst, und der verweigert sich, indem er die Partei Nicolas nimmt (er hat während des ganzen Films keine andere), zunehmend der Sprache des Realismus und dem dokumentarischen Gestus des Erzählens. Er inszeniert als Alptraum, was uns alltäglich ist, wie er zuvor dokumentierend festhielt, was für uns zum Traum vom anderen Leben gerann: die Einheit nämlich, die Harmonie und Verständigung aller Erscheinungen mit dem Menschen.
Schroeter hatte die Glückserfahrung schon sehr früh in einigen zentralen Sequenzen von "Eika Katappa" (1969) formuliert, wo er selbst Wagner auf italienisch singen ließ und in Neapel und auf Capri das Ziel einer Wanderung fand, die aus Xanten, dem nibelungischen Nebelheim des Nordens, nach Süden führte. "Palermo oder Wolfsburg" ist der Weg zurück unter die tote Sonne, aber das Zentrum des Lebens bleibt unter südlichem Himmel, jüngst noch zur Sprache gebracht in "Regno di Napoli / Neapolitanische Geschwister" (1978), wo sich das Interesse des Dokumentarischen und filmisch-pathetischer Zugriff glücklicher vereinten als in "Palermo oder Wolfsburg", wo beides zugleich anwesend sein konnte, Soziologie und Seele, Geschichte und Pathos, Politik und Exzentrik. Es ist sicher kaum Zufall, daß in "Palermo oder Wolfsburg" einige Aktionen geradezu schwach inszeniert zu sein scheinen: es sind Szenen mit deutschen (Laien-)Darstellern, denen die Unmittelbarkeit von Empfindung und Ausdruck nicht mehr gegeben ist.
Es ist ein riskanter Parforceritt, mit dem Schroeter "Palermo oder Wolfsburg", den knapp dreistündigen Film, von einem realistisch-dokumentarischen Anfang in die Absurdität des Realistischen treibt. Realismus ist absurd geworden, wo "Realistisch-sein" keinen Stilwillen mehr meint, sondern die Billigung von Kälte, Brutalität und Entfremdung als reale Gegebenheiten. In Wolfsburg, endlich, steht nicht Nicola vor Gericht, sondern alles, was sich mit dem Wort Wolfsburg verbindet und identifizieren lassen muß: industrielle Effizienz und rücksichtsloser, menschenfeindlicher Wettbewerb. Vor Gericht steht da zugleich aber auch unsere Kinophantasie. Sie muß sich vor dem ästhetischen Tribunal dieses Films bekennen und erweisen.