Die Sünde

Österreich 1922 Spielfilm

Sodom und Gomorrha, 1. Teil


H. M–s. (= Heinz Michaelis), Film-Kurier, Nr. 185, 16.8.1923


In diesem Film soll der Menschheit von heute ein Spiegelbild vorgehalten werden, auf daß sie erkenne, wie sehr sie in die Sünden des Fleisches verstrickt ist.

Zeigen will man uns, daß die Welt notwendigerweise dem Untergang verfallen ist, wenn es schon so weit mit ihr gekommen ist, daß junge Weltdamen sich mit unmündigen jungen Leuten Stelldicheins in Gartenpavillons geben.

Aber – so wird durch den Mund eines Mönches, der das moralische Gewissen in diesem Film bedeutet, verkündet – die Menschheit ist zu allen Zeiten sündig gewesen. Nur das Kleid der Sünde wechselt, ihr Gesicht bleibt sich ewig gleich.

Die einzige Funktion dieses Mönches besteht darin, sich über die Dinge dieser Welt sittlich zu entrüsten, was sein Darsteller Michael Varkonyi dadurch zum Ausdruck bringt, daß er ganz fürchterlich die Nasenlöcher bläht.

Im übrigen ist sein Mißvergnügen angesichts des Festes in der Milliardärsvilla durchaus verständlich.

Von diesem Fest wenden sich alle Götter mit Grausen, und zwar weniger aus Gründen der Moral als denen des guten Geschmacks.

Was Lubitschs Witz seinerzeit in der "Austernprinzessin" so glücklich parodierte, die Überladenheit gewisser Gesellschaftsfilme, feiert hier seine Auferstehung. (...)

"Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen" sagte sich Herr Regisseur Michael Kertesz und stampfte daher eine Legion von Komparsen aus der Erde, die sich zu allerlei niedlichen Gesellschaftsspielen und Tänzen zusammenfinden.

Was in kleinem Rahmen anmutig gewirkt hätte, wirkt dadurch, daß es, um einen Schillerschen Ausdruck zu gebrauchen "illuminiert und fresko" geboten wird, grotesk.

Das Portal zu der Villa wird von einer Reichswehr von Bedienten flankiert.

Auf diesem Fest nun begibt es sich, daß ein junger Bildhauer, der in vorhin erwähnte junge Weltdame verliebt ist, einen Selbstmordversuch unternimmt, weil seine Angebetete aus Gründen wirtschaftspolitischer Natur dem Bankier Harper, dem Vater jenes Jünglings, mit dem sie im Gartenpavillion zärtliche Zwiesprache pflegen will, die Hand zum Ehebunde zu reichen gedenkt.

Und nun begibt sich sozusagen als Einlage in der modernen Handlung die Geschichte von Sodom und Gomorrha, die zum Teil als Erzählung des Mönches, zum Teil als Traum der schönen Sünderin gedacht ist. (Nebenbei bemerkt widerspricht es den Gesetzen der Traumpsychologie, daß jemand Dinge träumt, an die er im wachen Zustand nicht im entferntesten gedacht hat.)

Auch in der Gestaltung des legendarischen Teils bekundet sich die elementare Schwäche dieser Regie, der es gänzlich an schöpferischer Phantasie gebricht.

Herr Kertesz stellt Bilder, die etwa an die Art der überwundenen Historienmalerei erinnern, und sucht durch Aufgebot von Massen die mangelnde innere Bewegung zu ersetzen. Immerhin sei zugestanden, daß einigen Szenen ein gewisser fortstreitender Rhythmus eigen ist und daß der Brand von Sodom und Gomorrha eine technische Spitzenleistung darstellt.

Von dem, was der Regisseur hier geben wollte, der Atmosphäre einer untergehenden Welt, ist freilich kaum etwas zu spüren; sondern die Technik ist es, die hier die Herrschaft über den Geist davongetragen hat.

Völlig eindruckslos ist die Darstellung. Lucy Doraine in der Hauptrolle ist ein glatter Versager. Diese Schauspielerin gibt niemals einen Menschen, sondern immer nur einen bewegten Automaten, der über einen feststehenden Vorrat von Bewegungen verfügt. Ihr erprobtestes Requisit, das für alle seelischen Regungen herhalten muß, besteht darin, daß sie die Mundwinkel verzerrt, während die Augen einen starren Ausdruck annehmen.

Schauspielerinnen dieser Art gehören einer Entwicklungsstufe an, über die der deutsche Film heute schon hinausgekommen ist. Sie wirken wie Gespenster einer vergangenen Epoche. Die übrigen Mitwirkenden sind ebenfalls Klischee.

Der ganze Film ist bei aller Achtung für die auf ihn verwendete Arbeitsleistung, ein leeres, nur auf Deckenglanz berechnetes Gebilde.

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