Gudrun

Deutschland 1991 Spielfilm

Gudrun


Georg Seeßlen, epd Film, Nr. 3, März 1992


Ich fürchte fast, es könnte ein neues Genre entstehen, von "Herbstmilch" über "Hitlerjunge Salomon" bis zu "Gudrun": in schönen Bildern erzählte Geschichten aus der Nazizeit, in einer Welt von Opfern, die selber ein bißchen schuldig werden. Nicht so sehr ihr gerüttelt Maß an Kitsch ist diesen Filmen vorzuwerfen als vielmehr eine eigentümliche Nostalgie, eine Lust am Schönen im Grauen. Was da entstehen könnte ist eine Art Nazi-Heimatfilm, in dessen Bildsprache so viel Heimat ist, daß der Nationalsozialismus nur noch als fremde, äußere Bedrohung erscheinen kann, jene Beschädigung einer Idylle, die deren Wert erst verdeutlicht.

"Gudrun" spielt in einer durch und durch schönen Welt, in der es eigentlich keine Bösen gibt. Nicht einmal der Ortsgruppenleiter ist wirklich böse, nicht einmal der SS-Mann. Das Böse hat hier seinen Ursprung irgendwo draußen, wenn es auch alle Menschen erfaßt hat, sogar die Kinder. Der Vater ist im Krieg, und Gudruns Mutter will wieder arbeiten. Genauer gesagt, sie hat einen Geliebten bei der SS. Daher muß das Kind von Nürnberg aufs Land, zur Großmutter, die ein kleines Wirtshaus betreibt. Das steht im Schatten einer gewaltigen Kirche, was den Stimmen einen wundersamen Hall gibt, wenn man im Garten ist, und oben im Turm hat Fritz ein Refugium errichtet, wo Karl May und der "Hitlerjunge Quex" gelesen werden. Sein Vater ist Pfarrer und trotz Fritzens Gebeten immer noch ein Gegner des Führers, ihn selber hat man wegen eines Dolches, den er gar nicht gestohlen hat, aus der Hitlerjugend ausgeschlossen. Der Pfarrer wird, weil er trotz aller Warnungen immer wieder vom Frieden und vom Reich Gottes predigt, schließlich von Gestapo-Männern abgeholt.

Eines Nachts kommt Gudruns Vater ins Dorf. Er ist desertiert und hat die Wohnung in Nürnberg leer aufgefunden. Nun versteckt er sich im Keller des Wirtshauses. Er begegnet seiner Frau, als sie mit ihrem Geliebten zu Besuch kommt. Fritz und Gudrun treffen sich um Mitternacht auf dem Friedhof, um Blutsfreundschaft zu schließen. Dabei muß jeder dem anderen ein Geheimnis verraten. Gudrun verrät, daß ihr Vater im Keller versteckt ist. Fritzens Geheimnis kennt Gudrun ja schon: Er will zur HJ. Noch in der Nacht radelt er zum Ortsgruppenleiter, um Gudruns Vater zu denunzieren, doch warnt dieser die Großmutter gerade noch rechtzeitig. Gudruns Vater flieht, wird jedoch bald gefangen und zum Exempel erschossen. Mit der Mutter kehrt Gudrun nach Nürnberg zurück: "Die Mama braucht mich jetzt." Auf der Fahrt soll sie etwas lesen. Aber für Märchen ist Gudrun nun zu alt. Wie es wohl war, Kind zu sein im Nationalsozialismus, heranzuwachsen unter den Bedingungen des Terrors und selbst schon Teil des Terrors? Die Frage ist mittlerweile historisch so weit entfernt, daß sie Gegenstand der Verklärung werden kann. Der ewige Familienroman setzt sich gegen die Mechanik des Terrors durch.



Fitzgerald Kusz hat eine schöne Geschichte geschrieben, eine Geschichte über die Liebe und den Verrat zwischen Kindern und Eltern: Jeder wird, indem er liebt, zum Verräter des anderen. Er hat, wie gewohnt, die Dialoge im fränkischen Dialekt verfaßt und sorgfältig darauf geachtet, wie alles miteinander verwoben ist. Das gibt Authentizität, das heißt, man glaubt, daß es sich hier um wirkliche Menschen handelt. Aber Kusz stellt damit, in einem gefährlichen Diskurs, den wirklichen Menschen gegen den abstrakten Faschismus. Den Personen in "Gudrun" glaubt man ohne weiteres, daß sie von allem nichts gewußt haben, daß ihr Leben in passivem Widerstand, ihre Schuld in erzwungener Anpassung und in ihrer "Verführbarkeit" lag. Worum es gegangen sein könnte, der fränkische Weg zum Faschismus, verschwindet hinter einer fränkischen Passion im Nationalsozialismus. "Gudrun" erklärt, daß der Faschismus so effektiv sein konnte, weil er sich des Privaten so stark bemächtigte. Die weniger mythische Umkehrung, daß er auch aus diesem Privaten entstand, in Alltag und Familie schon vorgeformt war, versagt sich ein Autor, der für so etwas talentiert schien. Der Regisseur Geissendörfer hat diese Geschichte in schöne Bilder übersetzt. So entstand ein Film.

Das ist im Prinzip ein legitimes Verfahren; allerdings scheint mir fraglich, ob dies beim derzeitigen Stand der Erkenntnis über die Funktion von Bildern und von Bewußtsein und in Bezug auf dieses Thema ein akzeptables Vorgehen ist. Welche Chance hat politisches Bewußtsein gegen diese Bilder einer Welt, die so aussieht wie in unseren Träumen: vor den architektonischen, den industriellen, den ökologischen und den kleinsozialen Sünden. Welche Chancen hat historisches Bewußtsein gegen den Familienroman, dessen tiefenpsychologische Implikationen so deutlich sind, daß das Eingreifen der Geschichte ins Schicksal nur noch als bestätigendes Element erscheint? Welche Chance hat Erkenntnis bei so viel "Menschlichkeit"? Die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit ist das eigentliche Thema und die Versöhnung ihre Utopie. Wir sehen einen Film wie "Gudrun" mit dem wohligen Gefühl, daß die wahren Faschisten immer nur die anderen waren. Wir träumen uns einen Familienroman zusammen, mit einem antifaschistischen Opa, der das alles glücklicherweise nicht mehr erleben mußte, mit einer erdhaft guten Großmutter, einer Mutter, die durch sexuelle und ökonomische Zwänge schuldig wird, einem Vater, der nicht strahlender Held, aber tapferes, geliebtes Opfer wird, mit Kindern, die noch in ihrem Verrat ihre Unschuld erweisen, und mit Bratwürsten, die noch das Glück eines kleinen Wunders bedeuteten.

Die seltsame Wahrheit, daß es auch in der Zeit des deutschen Faschismus so etwas wie ein wirkliches Leben gegeben haben muß, in dem es bedeutsam war, daß man schwimmen lernte, in dem sich der erste Kuß ereignete, steht mit der Wahrheit von "Shoah" in Konkurrenz. Die Behauptung aller alltagsmenschlichen Kunst: „Das Leben geht weiter", die auch "Gudrun" durchzieht, ist in diesem Augenblick der Geschichte denkbar fragwürdig. Ich weiß nicht, ob Filme wie "Gudrun" schlecht sind, sie sind ja ästhetisch und moralisch abgesichert. Sie atmen ein bißchen Trauer, ein bißchen Versöhnung, viel Vergangenheit und eine Prise Heimweh. Aber dürfen sie sich wirklich so unverletzt geben?


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