St. Pauli Nacht

Deutschland 1998/1999 Spielfilm

Kein Kiez, nirgends

Einstürzende Episoden: Sönke Wortmann schwankt durch eine "St. Pauli Nacht"


Peter Körte, Frankfurter Rundschau, 02.09.1999

Wer heute im Kulturbetrieb was auf sich hält, hat das Episodische entdeckt, und wer es bis zur mittleren Reife bringen will, der muss diskret fallen lassen, auch das Erzählen ein wenig zerstreut geworden sei. Im Kino kann man sich kaum vor den Episodenfilmen retten, und wer sich dabei fragt, ob nicht in der Passion fürs Patchwork eine Bequemlichkeit liegt, die dem Stoff ablastet, dass es dem Plot nicht reicht, dem wird mit treuherzigem Augenaufschlag versichert, das Leben wolle sich zu Geschichten nicht mehr runden. Man verweist auf Orientierungswaisen, poröse Sinnzusammenhänge und Isolation im Dickicht der Städte, als gäbe es die erst seit gestern, und so mancher Drehbuchautor glaubt, mit seine Episodereigen den Takt der Zeit zu treffen.

Natürlich ist es naheliegender, in Berlin, London oder Los Angeles einen Film aus Episoden und einem Figurenensemble zu montieren, weil dort eben mehr passiert als im Bergdorf, wo jeder ein Schwein im Stall hat und alle Wege ins Wirtshaus führen. Doch die Topographie kann es auch nicht richten, wenn die Geschichte nicht stimmt, und die Figuren nicht zum Leben erwachen. Sönke Wortmanns "St. Pauli Nacht" ist zu der Tanz mit dem Trend nicht bekommen, obgleich er seine Episoden in einer Nacht kondensiert hat.

Drehbuchautor Frank Göhre bewegte sich in seinen drei Hamburg-Krimis auf sicherem Parkett, wo der Plot die Richtung vorgab und nicht die Bewegung der Figuren. Im Kino haben er und Wortmann den Faden verloren. Man muss dabei gar nicht an Altmanns "Short Cuts" erinnern, an Michael Winterbottoms "Wonderland", der im November ins Kino kommt, oder auch an Uwe Schraders Kiez-Reigen "Mau Mau". Ist Doris Dörries "Bin ich schön?" schon vergessen" Oder Andreas Dresens "Nachtgestalten", vor drei Wochen erst angelaufen?

Wie sie ihre Figuren und deren Geschichten trotz mancher Schwächenmiteinander verwoben haben, das ist ungleich geschickter und überzeugender. Göhre/Wortmann haben ihr St.-Pauli-Patchwork mit groben Stichen verbunden, die wulstige Nähte werfen, wo es auf die Eleganz der Übergänge, auf die Illusion der Nahtlosigkeit ankommt. Der alte Fußballer Wortmann müsste eigentlich wissen, dass der Spielfluss ins Stocken gerät, wenn man einen Stürmer losrasen lässt und nach einer Viertelstunde durch Verletzung verliert. Beim Fußball gibt´s dafür wenigstens keine Rückblenden, von denen der Film gerade dann Gebrauch macht, wenn es zur Dramaturgie am wenigstens paßt. Wenn man quer zur Chronologie erzählen will, dann muss auch die Asynchronität ihren Rhythmus finden.

Wortmanns Figuren verströmen ihre sozialen Rollen wie ein aufdringliches Parfüm. Keine kommt übers erste Klischee hinaus, keine gewinnt. Kontur, weil alle nur das Absehbare tun. Der Fabrikant (Peter Sattmann) von außerhalb geht in den Puff, als das Grapschen im Restaurant nicht hilft, und was er will, ist nur die nächstliegende aller Männerphantasien. Dass die Grafikerin (Valerie Niehaus) den nett-einfältigen friesischen Fitnesstrainer (Oliver Stokowski) trifft, dass der Knacki (Benno Fürmann), der solide werden will, erschossen wird, dass der Kleinkönig vom Revier (Christian Redl) bisweilen melancholisch ist und der Postbote nicht nur aus dem Osten kommen, sondern wie Armin Rhode aussehe muss, trägt auch nicht zur Belebung bei.

Wo Wortmann im Interview über den Reiz der Zufälle philosophiert, da kann er auch der Leinwand nie einen glaubhaft machen. Schon bevor es brennt, sieht man der Petroleumlampe das ganze Unheil an, und wie schon in "Der Campus" fehlt nahezu jede Inspiration aus einer Szene ihr Potential – spätestens am Schneidetisch – herauszuholen. Wenn der amoklaufende Postbote endlich aus seiner Rückblende heimkehren darf, kehrt Wortmann die Blickachse nicht um, so dass man das Opfer nun durch die Augen des Mörders sähe, und wenn er fast die Hälfte des Ensembles am Brandort versammelt, sieht das aus, als müsste es nur brennen, damit sie irgendwo mal unauffällig zusammenkommen können. Nicht mal der putzige Taxifahrer (Ill-Young Kim), ein Koreaner, der Rasta Roby heißen muss, taugt zum Verbindungsmann. Zwar schafft es der nette Softie mit dem kleinen Joint, fast alle Protagonisten irgendwann einmal in den Wagenfond zu lotsen, doch als Figur, die den Zuschauer durch die Nacht chauffiert, ist er nur eine quasselnde Leerstelle.

An den Schauspielern liegt es nicht. Wer mit einer Maruschka Detmers nichts anzufangen weiß, mit einem hinreißenden neuen Gesicht wie Valerie Niehaus oder einem Haudegen wie Christian Redl, weil er ihnen keinen Raum zur Entfaltung lässt, der kommt auch nur zu einem matten Schluss im Morgengrauen. "Denn alle Schuld rächt sich auf Erden, auch die, Schemen oder doch mindestens Halbschatten für Menschen ausgegeben zu haben", hat der alte Fontane geschrieben. Das gilt auch fürs Kino, und so lieblos wie Wortmann mit seinen Figuren umgeht, bleibt alle Leidenschaft und Sehnsucht Behauptung; vor lauter Gleichgültigkeit weiß man irgendwann nicht mehr, warum er überhaupt von ihnen erzählen will.

An Hamburg liegt es auch nicht. Dass in Filmen, die an einem Ort in einer Nacht spielen, der Schauplatz zum Hauptdarsteller wird, ist zwar eine Binsenweisheit doch deshalb kann sie nicht jeder befolgen. Was Sönke Wortmann zwischen Millerntor und Spielbudenplatz, Herbertstraße und Großer Freiheit gesehen hat, wirkt immer so, als käme das Team gleich zum Abräumen und Umbauen. Das Herz von St. Pauli, wenn´s denn je geschlagen hat, pumpt hier nicht mehr, nur ein bisschen Folklore aus Leuchtreklamen, Bierschwemmen, Edelpuff, Schmuddelabsteige und Nobelrestaurant wie fürs Auge des "Cats"-Besuchers ist geblieben. Von explosiven Gemenge aus flauem Sexgeschäft. Kiezsentimentalität und organisierter Kriminalität keine Spur. Und wenn man in einem Wasserloch wie dem "Silbersack" dreht, dann müsste es halt auch so aussehen wie Säufers letzte Ausfahrt. Wer durch Sönke Wortmanns "St. Pauli Nacht" streift, kommt stocknüchtern wieder heim: Kein Kiez, nirgends.

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