Stein

DDR Deutschland 1990/1991 Spielfilm

Tyrann im Narrenhaus

Egon Günthers "Stein" spielt in einer längst vergessenen Zeit – dem Herbst 1989


Alfred Holighaus, tip, Berlin, Nr. 19, 12.9.1991


Geographie der Gefühle. Im Süden Deutschlands weiß man nicht viel vom nördlich des Südens gelegenen Osten. Man kümmert sich auch nicht viel darum, ist also unbekümmert. Im Osten Deutschlands kümmert man sich naturgemäß kaum um den Süden, weil man sich um den Osten kümmern muß, also um sich selbst. Im Süden hatte ein Film aus dem Osten in diesem Sommer seine Welturaufführung. Monate später fand im Osten die Pressevorführung statt. Diese wiederum war kaum von Westlern besucht. Der Autor und Regisseur des Films kommt aus dem Osten und hat die letzten Jahre im Süden gelebt. Er heißt Egon Günther und hatte damit sozusagen zwei Heimspiele. Eines, das in Berlin, hat Günther verloren. Die Kritiker aus Ost-Berlin waren ratlos, verstört, wollten den Heimkehrer nicht mehr aufnehmen, zogen sich – fast wie die Hauptfigur des Films – auf sich selbst zurück – und machten einen freudigen Anlaß, nämlich den Film selbst, zur kleinen Tragödie für den Regisseur. Günther war anderes gewohnt. Ausgerechnet auf dem Münchner Filmfest wurde er gefeiert. Da weinte Günther vor Freude. Das Publikum, gerade im Süden immer offen für Oberflächlichkeiten, spürte die Erleichterung über einen deutschen Film über das akute deutsche Thema ohne typisch deutsche (und besonders ostdeutsche) Schwere, ohne Larmoyanz, mit den skurrilsten Kinofiguren der letzten Jahre und dem bewundernswerten Mut zu stilistischer und inhaltlicher Radikalität.

Stein (Rolf Ludwig) ist eine Kunstfigur und ein Künstler – wie viele Hauptfiguren in DEFA-Filmen. Stein war privilegiert und blieb es bis zum Schluß. Das verdankte er einem Kunst-Griff. Stein war ein Bühnenstar der DDR der Sechziger und hörte nach dem Einmarsch der Sowjets und seiner Landsleute in Prag von einem Tag auf den anderen auf zu arbeiten. So spielte er ab sofort den Verrückten und blieb in seinem großen Haus bei Berlin, wo er ständig junge Menschen um sich scharte. Sie waren seine Enkel im Geist. Sie saßen im Knast, weil sie nicht dienen wollten, sie kamen mit blauen Flecken von einer Montagsdemo, sie waren allein, weil ihre Eltern über Ungarn in die BRD geflohen waren. "Stein" spielt im Herbst 1989 – und weckt die Erinnerung an eine Zeit, die schneller vergessen wurde als die der Krönung Karls des Großen.

Der alte, verrückt spielende Stein ist die Alternative seiner Freunde zum alten, debilen Honecker. Wenn Stein ein Tyrann ist, dann schützt er sich selbst. Honeckers Schutzmaßnahmen aber taten ihnen weh, bereiteten ihnen jene blauen Flecken, die sie bei Stein kurieren konnten. Steins Haus ist ein Narrenhaus. Deshalb geht es dort auch komisch zu – und lustvoll. Zwei Qualitäten, die man DEFA-Filmen gerne abgesprochen hat. Zum Ende der (alten) DEFA hat Günther sie zurückgebracht. Und das wurde ihm vor Ort übelgenommen

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