Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat

BR Deutschland 1974/1975 Spielfilm

Ein Glücksfall

Bernhard Sinkels Film-Komödie "Lina Braake"


Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 05.09.1975

Innerhalb des westdeutschen Films ist Bernhard Sinkels überraschendes Debüt "Lina Braake, Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat" (Bundesfilmpreis 1975) ein Glücksfall. Nämlich das Werk eines übrigens 1940 in Frankfurt geborenen Regisseurs unserer jungen Garde; und eine Komödie. Der Film appelliert an unser aller Wunsch zum Indianerspiel, an die tiefen Schichten der Kolportagewahrheiten, in denen der zuerst übertölpelte, der arme (und hier alte) Mensch zuletzt siegt. In "Lina Braake" schlagen zwei Alte der Gesellschaft der Banken ein Schnippchen. Es ist die List, mit der sie vorgehen, die einen entzückt, und die Lust, mit der wir ihrem planvollen Betrug zuschauen, ist eins mit dem Willen, uns nicht unterkriegen zu lassen. Der Wille zum Überleben – er wird gestärkt, und was als Humor in Sinkels "Lina Braake" wirkt, kann man auch geglückte Ermutigung nennen. Denn die Komödie stellt die Welt auf den Kopf, oder vom Kopf auf die Füße. Sie sagt: So wie es ist, muß es nicht sein, und sie zeigt uns Menschen, die es anders machen.

Lina Braake und Gustaf Härtlein, in ein Altenheim abgeschoben, halten sich nicht an die Spielregeln: nämlich vor sich hinzudämmern, dem "Abwracken" entgegen. Sie konzentrieren ihre Energie darauf, durch Verstellung und Macken die Welt draußen übers Ohr zu hauen. Nicht allein aus Spaß an der Sach", nicht allein als Beschäftigungstherapie, sondern als Rächer in eigener Sache. Denn die Bank, die Lina Braake trotz ihres versprochen lebenslänglichen Wohnrechts aus einem Altbau vertrieben hat, soll nicht ungeschoren davon kommen. Da ist noch eine Rechnung zu begleichen, statt unter das mißbrauchte Vertrauen, das Lina Braake zum Wort eines Bankers hatte, resignierend einen Strich zu ziehen; und die Bilanz aufzumachen: negative Rächer der Enterbten in eigener Sache zu sein. Da tummelt sich der längst entmündigte ehemalige Großfinanzier Gustaf in seinem Element. Er tüftelt einen Plan aus, um die Bank mit ihren eigenen Vorstellungen von Respektabilität zu schlagen. Er wirft den Köder aus, die Bank schnappt zu, und Lina zieht den großen Fisch an Land. Damit man ihn ihr nicht nachher wieder entwindet, bringt sie ihn, dank einer Gesetzeslücke, bei Bedürftigen unter, was auch für sie von Vorteil ist.

Das erschwindelte Darlehen überträgt sie auf die Familie eines sardischen Gastarbeiters, der sich davon in seiner Heimat ein Haus kaufen kann, in dem Lina ein Wohnrecht auf Lebenszeit hat. Die Bank hat das Nachsehen.

Ist das Gerechtigkeit? Zumindest: ein Ausgleich. Wer freut sich da nicht, wenn ein Mensch gegen den Übermut der Ämter und gegen die anonyme Macht des Geldes gewinnt? Daß es ein Sieg der Intelligenz, der planvollen, vorausschauenden Phantasie ist (und nicht des Zufalls, eines Deus ex machina und auch nicht der Gewalt): das beflügelt den Witz. Daß es Alte sind, die nach landläufigem Urteil zu nichts mehr taugen sollen, und als Entmündigte ins gesellschaftliche Abseits geschoben worden waren: das freut uns doppelt. Sie (wir) können anders sein, als uns zudiktiert ist. Das ist, selbst materialistisch gedacht, nicht idealistisch: weil der Gedanke dort zur Wirklichkeit drängt, wo die Wirklichkeit sich dem Gedanken öffnet. Es kommt darauf an, die Lücke zu finden oder die Tonart der Melodie, um die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Das .ist eine Frage der Strategie, der Dramaturgie und der Phantasie.

Was die Kleinbürgerin Lina, den ehemaligen Großkapitalisten Gustaf und den Proleten Körner, der vom Heimleiter unterdrückt wird, zusammenbindet, sind verschiedene Motive. Bei Lina der Wunsch, die Betrüger zu betrügen; bei Gustaf, den systematischen Betrug des Betrugs-als-System auch von jenseits der Entmündigung (also der Ausschaltung aus dem System des Betrugs und der Betrügereien wegen zu großer Anarchie) fortzusetzen; und Körner, der proletarische Hausknecht, will es dem piesackenden Heimleiter heimzahlen. Eine Volksfront der Alten – zugunsten der Gastarbeiter.

Denn das ist ein wichtiges Moment in Sinkels Dramaturgie: daß er die von unserer Gesellschaft an den Rand Gedrängten zusammenführt. Da reflektiert dieser Komödienspiegel Erfahrungen und Gedanken, auf die erst wirklich die Jungen (die junge Linke) gekommen waren (und Böll im "Gruppenbild mit Dame"). Was diese gesellschaftlichen Randgruppen zusammenbindet, ist die gleiche Abhängigkeit: Arbeitssklaven auf Zeit; wenn sie nicht mehr mithalten können und nicht mehr gebraucht werden, scheidet man sie aus: minimale Altersversorgung oder Arbeitslosigkeit sind phasenverschobene Schicksale. Sinkels "Lina Braake" entwickelt gegen solche gesellschaftlichen Kollektivzwänge keine Kollektivlösungen. Die Mauer der Zwänge durchbrechen hier nur einzelne, für einmal, für sich, aber auch zugunsten anderer.

Das erinnert stark an die Welt Bölls im letzten Teil seines "Gruppenbilds mit Dame“, wo die gleiche sympathetische und sympathische Gemeinschaft zwischen Alten und "Gastarbeitern" beschworen wird: als Utopie, die naheliegt. Sardinien ist in "Lina Braake" der arkadisch-idyllische Fluchtpunkt.

Daß Sinkels "Lina Braake", die auf dem .diesjährigen "Jungen Forum des internationalen Films in Berlin" eine überwältigende Resonanz bei jungen Zuschauern fand, so viele Menschen anspricht, anrührt und auf eine ganz unsentimentale und damit nicht-melodramatische Weise ergreift, liegt weniger an besonderen filmischen Fähigkeiten des jungen Regisseurs – die eher bescheiden sind – sondern an der einfach erzählten Geschichte und der Präsenz der beiden Hauptdarsteller Lina Carstens und Fritz Rasp. Ich habe noch keinen Film gesehen, in dem der Gang, die Gestik, das Verweilen, die Ruhe und auch das wider die Hinfälligkeit des Alters durchgehaltene Standvermögen der Schauspieler mich so sehr beeindruckt und mir eine neue Erfahrung von der Bewegung alter Menschen vermittelt hätten – wie jetzt "Lina Braake". Es gibt eine Grazie, die Würde ist, abgerungen dem leiblichen Verfall. Das kann, besonders junge Menschen, die so was noch nicht an sich erfahren haben, hinreißen, begeistern, übrigens auch ermutigen, den aufrechten Gang, Selbstbewußtsein, Mut und Witz für sich zu bewahren oder erst zu entwickeln. Nicht einschüchtern lassen – wenn es nur das wäre, was diese Komödie vermittelt, es wäre schon viel.

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