Der Schneider von Ulm

BR Deutschland 1978 Spielfilm

Der Schneider von Ulm



Günther Knorr, Film-Beobachter, Nr. 24, Dezember 1978


Der Schneidergeselle Albrecht Berblinger aus Ulm ist Ende des 18. Jahrhunderts auf der Walz im Raum Wien. Bei seinem Wiener Meister lernt er Jakob Degen kennen, der die Wiener Gelehrtenwelt mit einem Gerät beeindruckt, das den Menschen die Fähigkeit des Fliegens geben soll. Ferner macht er die Bekanntschaft einer Ballonfahrerfamilie, die mit Degen im Prater das Fluggerät mit einem Fesselballon demonstriert. Als der Ballon sich losreißt, hängt sich Berblinger ans Ballonseil, um die Seiltänzerin Irma zu retten; er fliegt mit dem Ballon mit, läßt sich fallen und hat Glück.

Als verheirateter Schneidermeister in Ulm hat er ein eigenes Geschäft und ist ein angesehener Mann. Die Stadtväter unterstützen seine Versuche, ein Fluggerät zu bauen; man kennt seine Erlebnisse in Wien. Doch die – heimlich ausgeführten – Flugversuche Berblingers scheitern. Degen kommt auf der Durchreise von Wien nach Paris durch Ulm und tut so, als habe er das Problem gelöst. Berblinger zerstört sein Gerät. 1794 nimmt er an einer Bürgeraktion unter Führung des Paris-Heimkehrers Fesslen teil, die zum Ziel hat, die Auslieferung von Ulmer Kanonen zum Zwecke eines Kriegs gegen Frankreich zu verhindern. Er kommt in ein Lager, seine Frau verlässt ihn.

Nach seiner Entlassung arbeitet er wieder an einem Fluggerät und unterstützt den todkranken Fesslen, als dieser aus dem Turm kommt und seine schriftstellerische und buchdruckerische Arbeit fortsetzt. Die Franzosen bieten ihm Geld für die Forschung:Berblinger lehnt ab. Als jedoch die Ulmer Stadtväter vor dem Stuttgarter König mit Berblingers Flugkünsten – die am Ulmer Michelsberg funktionieren – glänzen wollen, lässt er sich überreden, sagt eine bereits angekündigte Demonstration seiner Fähigkeiten ab, um vor den hohen Herren von der Adlerbastei aus über die Donau ans bayerische Ufer zu fliegen. Da die Windverhältnisse über einem Fluss wesentlich ungünstiger sind, scheitert er jämmerlich. Er nimmt Reißaus und landet vor den Toren Ulms in der napoleonischen Armee.


"Es ist also ein epischer Stoff, der sehr viel aufgreift, der versucht, teilzuhaben an dem breiten Strom der Zeitereignisse und der Welt..." So äußerte sich Edgar Reitz, als sich "Der Schneider von Ulm" noch in Arbeit befand, über sein Thema. Es mag dem Regisseur bei der Arbeit aufgegangen sein, auf welch schwieriges Unterfangen er sich da eingelassen hat – "Ich finde es auch, ehrlich gesagt, ein bisschen pervers, einen solchen Film mit der Konsequenz zu machen, dass man die Welt erfindet". Reitzens Albrecht Berblinger hat mit dieser Welt, die mit viel Mühe und Aufwand für ihn konstruiert wurde, seine Probleme: Im Grunde überwindet er die ganze Handlung hindurch – 115 Minuten und etwa 20 Jahre – seine Einsamkeit nicht, an keiner Stelle wird eine Partnerbeziehung Berblingers fühlbar, bei seiner Frau Anna nicht, bei Irma, der Seiltänzerin, auch nicht. Es wird auch nicht etwa klar, dass Berblinger die politischen Ereignisse seiner Zeit begriffen hätte – mal spielt er das politische Spiel der anderen mit, mal nicht. Auch die Monomanie, die in seinen Flugversuchen stecken könnte, hält er nicht konsequent durch, zerstört er doch auf allgemeine Redensarten seines "Freundes" Degen hin sein Fluggerät. Ein armer Tropf, der bis zum Schluss sein Scheitern nicht begreift: Weist er doch dem französischen Emissär Napoleons mit den Worten die Tür, er bespreche mit Degen gerade das Problem von Auf- und Abwinden, und fällt am anderen Tag in die Donau, weil er weder seinen Erfahrungen noch seinen Vorahnungen folgt, sondern sich von den eitlen Honoratioren der Stadt und den ignoranten Landesherren zu diesem zweifelhaften Experiment verleiten lässt.

Bewusst werden im Handlungsfaden immer wieder Momente geschaffen, die traditioneller filmischer Überlieferung entsprechen: die vielsagende Miene Annas, als sie die Blicke sieht, die zwischen Irma und Albrecht gewechselt werden – sie spürt, dass zwischen beiden etwas ist. Oder der Augenblick, indem sie intuitiv in jenem Moment allen Verboten zuwider an Berblingers Versuchsstätte erscheint, in dem jener ihre Hilfe am nötigsten hat. Hier zeigt sich der Wille des Regisseurs zur Tradition des Spielfilms, wobei er es sich jedoch versagt, das kinoübliche Kapital daraus zu schlagen.


Dem Vorwurf, hier werde optisch ein durchaus oberflächliches Panoptikum historischer Rekonstruktionsversuche geboten, entgeht der Regisseur mit einem konsequenten und dennoch nur Insidern erkennbaren Stilbruch: Er relativiert die Mühsal, das kriegszerstörte Ulm in tschechoslowakischen Donaustädten wiederfinden zu müssen, durch einen manifesten Verweis auf die Gegenwart: Die wenigen Meter, die er tatsächlich in Ulm aufgenommen hat, sind zwar von Anachronismen wie Fernsehantennen frei, doch zeigen sie konstant jenen Turm des Ulmer Münsters, der Ende des vergangenen Jahrhunderts fertiggestellt wurde.

Weitgespanntes historisches Panorama um den Ulmer Schneidermeister Albrecht Berblinger, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Ulm ein Fluggerät konstruierte, damit tatsächlich Erfolg hatte, aber schließlich am Unverstand und den gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit scheitern musste. Ein schön bebilderter Spielfilm des Regisseurs Edgar Reitz, der hier bewusst der traditionellen filmischen Überliegerung verhaftet bleibt und eine schlichte, lineare Erzählweise bevorzugt, die der Erlebniswelt ihres Helden durchaus gerecht wird.

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