Cast, Director, Screenplay, Director of photography, Producer
Berlin

"Wenn Sie die Filme nicht lieben, hat es keinen Sinn"

Gespräch mit Jürgen Haase (2008)


filmportal.de: Herr Prof. Haase, mit "Und wenn sie nicht gestorben sind..." soll die eigentlich unendliche Geschichte der Kinder von Golzow nach fast fünf Jahrzehnten zumindest einen filmischen Abschluss finden. Erinnern Sie sich an ihre erste Begegnung mit Barbara und Winfried Junge?

Jürgen Haase: Ja, das kann ich. Das war 1997, als wir die PROGRESS nach der Ausschreibung durch die Bundesregierung übernommen hatten. Da kam Herr Junge zu mir und fragte, ob wir ein Interesse hätten – nachdem der Verleih nun privatisiert worden war –, diese Filme weiterhin ins Kino zu bringen. Dazu muss man natürlich sagen, dass ich davor einige der Golzow-Filme gesehen hatte, und mir war die historische Bedeutung bewusst: Man kann hier nicht einfach Nein sagen. Es war, wenn sie so wollen, eine moralische und kulturelle Verpflichtung und da habe ich dann gerne Ja gesagt: Solange sie die Filme machen, wird die Reihe bei uns im Hause eine Art der Verwertung finden.

Ich persönlich fand es zudem sehr spannend, über vier Jahrzehnte diese Menschen und ihre Reaktionen auf die gesellschaftspolitischen Veränderungen zu verfolgen. Das ist eine einzigartige Geschichte, für jeden Deutsch- oder Geschichtsunterricht optimal. Ein solches Panorama von 47 Jahren Filmarbeit zu entwerfen, das ist schlicht toll. Dabei sollte man erwähnen, dass Herr Junge einen sehr eigenen Interviewstil hat. Das hat mich am Anfang ein wenig irritiert, muss ich gestehen. Auf der anderen Seite beeindruckt die Art, in der er nachfragt, auch schonungslos mit seinen Protagonisten ist und nicht vor irgendwelchen falsch verstandenen Sensibilitäten zurückschreckt. Er geht so direkt auf die Leute zu, und man merkt dabei, dass diese Menschen auch die Bereitschaft haben, sich dazu zu äußern. Junge wusste immer, worüber er spricht, und er wusste immer – auch aus seiner eigenen Sozialisation in der DDR heraus – wo man den Finger in die Wunde legen kann. Dies hat er meines Erachtens sehr häufig getan, und dabei ist glaube ich etwas entstanden, was die DDR auf eine menschliche Art und Weise so wiederspiegelt, wie man es eigentlich nie in anderen Filmen wahrnehmen konnte.


Wie bereits erwähnt ist dieses Langzeitprojekt in der Welt einzigartig. Wie wird die Reihe aus Sicht des Verleihs international wahrgenommen?

Wichtige Partner sind für uns natürlich die internationalen Festivals. Wir waren zuletzt in Ländern wie Dänemark, England, Frankreich und Norwegen und konnten feststellen, dass es durchaus große Resonanz gibt. Insbesondere in Europa hängt dies sicher auch mit der besonderen Aufmerksamkeit für die Entwicklung Deutschlands nach der Wiedervereinigung zusammen. Ein weiterer wichtiger Auslandspartner sind für uns die Goethe-Institute, die viele Veranstaltungen mit den Filmen machen. Dabei haben die Institute selbst mittlerweile eine Art Vertriebsfunktion, zum Beispiel indem sie Video- und Bibliotheken im Ausland beliefern. Wirtschaftlich betrachtet sind die Filme, wenn sie auf Festivals laufen oder über die Goethe-Institute verbreitet werden, natürlich nicht so erfolgreich. Aber wir verstehen uns bei diesem Projekt ja auch nicht als diejenigen, die sagen, wir wollen unglaublich viel Geld damit verdienen. Uns ist wichtig, dass die Filme gesehen werden und Menschen damit in Berührung kommen. Insgesamt kann man daher über die ausländische Resonanz nur froh sein.

Das Stichwort Wirtschaftlichkeit ist bereits gefallen: Wie lassen sich das ökonomisch notwendige Gewinnstreben und ein kultureller, ja ideeller Anspruch wie bei den Golzow-Filmen im Verleihgeschäft miteinander vereinbaren?

Ich glaube, das muss man so sehen: Die PROGRESS ist ja mehr als nur ein Filmverleih, dahinter steckt ein bisschen mehr. Wir haben einen Weltvertrieb, einen zeitgeschichtlichen Ausschnittsdienst und so weiter und so fort. Wenn sie das alles als Gesamtunternehmen betrachten, dann kann man schlicht und ergreifend nur sagen: Gerade solche Filme können wir uns auch deshalb leisten, weil wir uns in anderen Bereichen mit anderen Filmen – zum Beispiel durch Fernsehlizenzverkäufe im In- und Ausland – eine gesunde wirtschaftliche Basis schaffen.

Wenn man diese Filme, wie im Übrigen das gesamte Repertoireprogramm, ausschließlich aus der Verleihsituation betrachten würde, dann muss man einfach feststellen, dass diese Sparte sich nicht allein tragen kann. Wir brauchen also immer die Lokomotive Fernsehen, und da in erster Linie die Bereiche Weltvertrieb und Ausschnittsdienst. Ohne diese beiden Säulen wäre es ganz, ganz schwierig als Verleih mit einem so kulturell anspruchsvollen Programm und dem riesigen Repertoire so erfolgreich zu sein, dass ein Unternehmen wie das unsere eine Überlebenschance hätte.

Und wir haben in der Tat neben der wirtschaftlichen auch eine kulturpolitische Verpflichtung. So führen wir in jedem Jahr einen gewissen Betrag an die DEFA-Stiftung ab, ganz gleich wie die wirtschaftliche Entwicklung ist. Das ist ein fixer Betrag der in einer Laufzeit von 15 Jahren alljährlich gezahlt werden muss. Insofern sind wir in der Verleih- oder vielmehr der ganzen Medienlandschaft ein kleiner Diamant, der den Spagat bewältigen muss, bei der Erfüllung unseres Kulturauftrags nicht die wirtschaftlichen Belange aus den Augen zu verlieren. Das ist uns in den letzen zehn Jahren gut gelungen.

Sie sprachen gerade den Weltvertrieb an, die deutschen TV-Sender spielen aber sicher noch eine sehr große Rolle in der Spielfilmauswertung?

Das deutsche Fernsehen spielt in der Tat eine große Rolle. Wenn Sie sich das einmal vergegenwärtigen: Wir haben in Jahr 2007 allein 363 Sendeplätze belegt. Sendeplätze heißt nicht, das 363 Filme gelaufen sind, aber das ist doch eine erstaunliche Anzahl. Im Prinzip könnten wir jetzt sagen, jeden Tag läuft in irgendeinem Sender hier in Deutschland ein DEFA-Film. Das ist schon toll.

Für den Fernsehbereich stellen wir Themenreihen zusammen und orientieren uns bei der Auswahl der Filme an historischen Daten. Das gilt auch für den Ausschnittsdienst. Und wir können erneut nur konstatieren, dass wir das Niveau im wirtschaftlichen Bereich in den vergangenen zehn Jahren erfolgreich haben halten können. Es bestand ja mal die Sorge, dass man sagte: Okay, wenn ihr die 50, 60 oder 80 besten Filme vermarktet habt, wer will dann noch was weiteres sehen? Das hat sich nicht eingestellt, sondern im Gegenteil sind wir immer wieder angehalten, auch Filme, die bis dato noch nicht im Fernsehen gelaufen sind, den Leuten so schmackhaft zu machen, dass sie sagen: Ach, das ist ja ein interessanter Film. Sei es aus politischen oder ästhetischen Gründen oder weil es exzellente Regie- und Autorenarbeiten sind. Und Gott sei Dank kann man in Deutschland Sender noch so sensibilisieren, dass sie da mitmachen. Dass dies trotzdem immer auch eine Gratwanderung ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Unsere Filme laufen ja nicht zur Hauptsendezeit, sondern vorwiegend auf der Nachtschiene, im Nachmittagsprogramm oder – im Fall der sehr beliebten DEFA-Märchenfilme – im Kinderkanal. Wir haben in dem Sinne kein Prime-Time-Programm, aber dafür ein exquisites Nischenprogramm.

Neben den, sagen wir mal, kanonisierten DEFA-Klassikern gelingt es also auch, weniger bekannte oder vergessene, aber filmhistorisch überaus relevante Produktionen ins Bewusstsein des Publikums zurückzubringen?


Es gibt sicherlich einige Beispiele. Filme von Regisseuren wie Roland Gräf oder Rainer Simon etwa, die im herkömmlichen Sinne nicht das große populäre Kino gemacht haben. Mit Konrad Wolf ist das was anderes, der Name spricht für sich und er hat auch in einer für die DEFA – und nicht nur für die DEFA – entscheidenden Zeit Filme gemacht. Aber es gibt Arbeiten anderer Regisseure, die etwas schwieriger zu handlen waren, weil sie sehr eigenwillig sind, und dazu gehört meines Erachtens auch Egon Günther. Dessen Filme haben wir sukzessive immer mehr ins Gespräch gebracht, und das gelingt dann auch.

Was gerade Außenstehende interessiert: Wie ist das Verhältnis zwischen den DEFA-Filmschaffenden und dem Verleih?

Wenn wir Wiederaufführungen von Filmen starten, dann gibt es in der Regel Premieren, zu denen die beteiligten Regisseure, Autoren, Kameraleute und Darsteller eingeladen werden. Und wenn wir Filmreihen zu einem bestimmten gesellschaftspolitischen Thema oder zum Werk einzelner Künstler machen, dann verbinden wir das immer mit Gesprächen. Zu denen sind die Leute gerne bereit und sie fühlen sich dadurch auch gewürdigt, selbst wenn es innerhalb einer Diskussion auch kritische Anmerkungen geben sollte. Das Verhältnis des Hauses PROGRESS zu den DEFA-Filmschaffenden würde ich daher als durchaus positiv bezeichnen. Es gibt natürlich bei manchen auch Schattenseiten. Die sagen ganz direkt: Das ist großartig, was ihr alles für die Filme macht, aber wir als Individuen haben nur posthum einen Nutzen davon, denn wir werden ökonomisch ja nicht mehr bedacht. Das ist ein Problem, welches ich menschlich nachvollziehen kann, nur hatten wir keinen Einfluss auf die Verträge der DEFA. Als festangestellte Künstler der DEFA wurden bis auf wenige Ausnahmen die meisten Filmschaffenden angehalten, ihre Rechte lebenslang abzutreten. Von daher gesehen gibt es bei einigen einen leichten Unmut darüber, dass sie wirtschaftlich nicht partizipieren können. Aber es gibt eine große Anzahl von Künstlern, die sagen: Toll, dass ihr euch so um das Repertoire kümmert und dass unsere Filme im Gespräch bleiben.

Die Privatisierung im Jahr 1997 war ein ebenso entscheidender wie kritischer Moment in der Geschichte der PROGRESS. Wie stellte sich die damalige Situation dar?


Bereits 1996 begann die Ausschreibung durch die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, an der sich natürlich auch größere Unternehmen als die TELLUX beteiligten. Also ich nenne mal als zwei Stichwörter Kirch und Bertelsmann, da war selbstverständlich auch ein Interesse da. Wir haben dann eine Anbietergemeinschaft gegründet, die bestand zum einen aus der DREFA – einer 100prozentigen Tochter des Mitteldeutschen Rundfunks – und der TELLUX-Gruppe. Die TELLUX, das sind von der Gesellschafterseite her neun katholische Bistümer, darunter das Erzbistum Berlin, zwei Verlagshäuser, und die Geschäftsführung hat die Sperrminorität von 25,1 Prozent. Wir hatten uns als TELLUX-Gruppe bis dato immer als produzierendes Unternehmen mit anspruchsvollen Dokumentationen sowie Kino- und Fernsehfilmen hervorgetan. Wir haben schon Mitte der 1980er mit der damals noch existierenden DEFA kooperiert, und zwar im Rahmen der ZDF-Fernsehreihe "Reisebilder aus der DDR". Das hat natürlich zum Knüpfen von Kontakten geführt, ohne zu wissen, dass 1989 die Mauer fällt. Das hat keiner geahnt.
Aber von daher gesehen gab es bei uns im Haus schon immer ein großes Interesse an der Kultur und gesellschaftspolitischen Entwicklung der DDR. Das haben wir dann noch einmal deutlich gemacht und ein Konzept entworfen, wie mit dem Verleih, dem Weltvertrieb und dem Ausschnittsdienst umgegangen werden sollte, und in dem wir die kulturellen ebenso wie die wirtschaftlichen Aspekte beleuchtet haben. Und der Idee, eine DEFA-Stiftung ins Leben zu rufen, haben wir sehr nahe gestanden.

Insgesamt gesehen hatte man dann ein mittelständisches Produktionsunternehmen mit guten Kontakten zu den Fernsehanstalten, das sich zudem dank Ko-Produktionen ein bisschen mit der DDR auskennt, sowie die DREFA, eine Tochtergesellschaft des neugegründeten MDR. Das war natürlich schon ein Paket, von dem man sagen konnte: Hier gibt es gewisse Garantien, dass der Film in allen Bereichen sorgfältig gepflegt wird und auch Abnehmer findet. Wir hatten ja in den ersten drei Jahren Rahmenverträge geschlossen, die für uns eine Grundsicherung bedeuteten. Insbesondere bin ich da dem MDR sehr dankbar, denn das hieß, das in den ersten drei, vier Jahren eine bestimmte Anzahl ausgewählter Filme im Paket abgenommen wurde. Das war eine gute Grundlage, auf der wir aufbauen konnten. Neben dem MDR haben wir dann auch mit ORB, RBB, SFB und den Dritten Programmen gearbeitet. Später kamen ZDF, 3SAT und ARTE hinzu und so wächst das bis heute, wo wir im Dokumentarkanal des ZDF ein 30- bis 40-Stunden-Paket platzieren. So hat sich das entwickelt, und ich denke, dass die damaligen Verantwortlichen nicht schlecht beraten waren, statt auf einen großen Konzern eher auf einen Mittelständler zu setzen, der dafür aber ein großes Engagement und ein dezidiertes Verständnis der Materie mitbringt. Denn Sie können diese Filme nur lizenzieren und ins Gespräch bringen, wenn Sie die Sachen lieben. Wenn Sie die Filme nicht lieben, hat es keinen Sinn. Wenn es eine Geldruckmaschine hätte werden sollen – das wäre mit uns nicht gegangen. Ob mit dem Material überhaupt eine Gelddruckmaschine hätte entstehen können, war ohnehin ein großes Fragezeichen.

Die Filme in der Verwertung und im Bewusstsein zu halten ist somit die große Herausforderung?


Ja, und ich denke, wie haben da ganz gute Arbeit geleistet. Wenn man sich etwa noch einmal vergegenwärtigt, dass wir 2005 im Museum of Modern Art in New York in zwei Wochen 26 DEFA-Filme präsentiert haben, das ist schon eine Leistung.

Wenn ich mich richtig erinnere, wurden hierfür zum Teil neue Kopien erstellt.


Es waren alles neu gezogene Kopien, die Englisch untertitelt wurden. Ein Großteil der Künstler war mitgereist, es gab Gesprächsrunden und Symposien und innerhalb dieser 14 Tage im Museum hatten wir 4.000 Besucher. Das ist gigantisch. Aber da greift eben auch unsere Vernetzungsstrategie im kulturellen Bereich, denn für dieses Projekt haben wir mit der Bundeskulturstiftung zusammengearbeitet. Wir betreiben hier ein kleines Kulturinstitut, das Wilhelm-Fraenger-Institut, welches wir aus kulturellen Gründen betreiben, und darüber haben wir einen Antrag gestellt. Und die Bundeskulturstiftung hat nicht unentscheidend dazu beigetragen, dass man das finanziell überhaupt stemmen konnte. Denn da stand schon viel Geld im Raum.

Also kann man nur sagen, dass das Konzept bis dato aufgegangen ist. Wenn man in die Zukunft schaut, muss man allerdings auch sagen, dass es mehr Investitionen brauchen wird. Bedingt dadurch, dass die Sendeanstalten beim Material jetzt einen anderen technischen Qualitätsmaßstab anlegen. Das beginnt bei der Tonnachbearbeitung und geht über die Bildkorrektur bis zu neuen Formatanforderungen wie 16:9. Da wird von uns mehr verlangt als vor 10 Jahren. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass über Korrekturen zu stark ins Filmwerk eingegriffen wird, nur weil der technische Standard es möglich macht. Darum mache ich da bei den klassischen Repertoire-Filmen auch ein großes Fragezeichen: Ich will einen Film von Wolfgang Staudte nicht neu gestaltet sehen, ich will ihn sehen, wie er damals entstanden ist.

Die Sicherung und Bewahrung des Ursprungsmaterials ist vor diesem Hintergrund sicher eine umso wichtigere Aufgabe.


Unser Filmlager in Adlershof ist mit 8000 Kopien natürlich gigantisch. Jede Kopie, die rausgeht oder zurückkommt, wird kontrolliert, und gehen Sie mal davon aus, dass 50 Prozent der Kopien in irgendeiner Form beschädigt zurückkommen, Daneben sind die neuen digitalen Verwertungswege die andere große Herausforderung, vor der die Verleihe stehen. Wir werden sicherlich viele Filme auf digitales Trägermaterial umspielen und vorsichtig den technischen Standards anpassen. Auch im Kinobereich nehmen die digitalen Abspiele zu, wobei ich das persönlich immer schade finde, weil das klassische Filmvorführen immer weiter ins Hintertreffen gerät. Der Charme und das, was ein Kino ausmacht, bleibt für mich die 35mm Kopie. Auch im Ausschnittsdienst werden wir alle Materialien digitalisieren, das ist ein Prozess, der dauert zehn Jahre. Aber wir werden uns dem stellen müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben.

Neben dem Repertoire-Film mit seiner immensen historischen, nationalen wie internationalen Bedeutung gibt es auch aktuelle Produktionen im Programm. Folgt PROGRESS bei der Entscheidung für neue Filme einem bestimmten Anspruch?

Grundsätzlich ja, das merkt man auch an den Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre. Wir haben "Feuerreiter" von Nina Grosse herausgebracht, und es war für uns selbstverständlich, Frank Beyers "Nikolaikirche" auch als Kinofassung zu veröffentlichen, obwohl es ein zweiteiliger Fernsehfilm war. Wir haben die letzten beiden Schlöndorff-Filme gemacht, "Der neunte Tag" und "Strajk", und wir widmen uns immer wieder dem Kinderfilm, da wir uns dem Genre sehr verbunden fühlen. Allerdings haben wir da kein Label wie die Grimmschen Märchen oder die Kästner-Verfilmungen, das haben mehr oder minder die großen Studios besetzt. Also suchen wir originäre Stoffe, die jedoch ungleich schwerer zu platzieren sind. Das ist leider so.

Und für die anderen Bereichen gilt: Gute Literaturverfilmungen und gute gesellschaftspolitische Themen interessieren uns immer. Für gute Unterhaltungsfilme haben wir vielleicht noch nicht die richtige Sensibilität entwickelt, obwohl es uns durchaus unter ökonomischen Gesichtspunkten interessieren würde. Aber das ist ein Feld, wo wir möglicherweise auch nicht konkurrenzfähig sind. Das muss man nüchtern sehen. Dabei bekommen wir laufend Drehbücher zugeschickt, die auch gelesen werden, und wir sprechen mit den Autoren, Regisseuren und Produzenten. Denn es hat sich herumgesprochen, dass wir ein anspruchsvolles Pogramm machen, und wir könnten von der Angebotslage her spielend 20 neue Filme im Jahr herausbringen. Aber dann wählen wir aus und sagen: Was trauen wir uns denn per Anno zu? Und maximal trauen wir uns zwei neue Spielfilme im Jahr zu. Im Dokumentarbereich haben wir mehr zugelegt, auch weil da die Investitionen nicht so hoch sind.

Volker Schlöndorff hat sich zuletzt kritisch zur ästhetischen und ökonomischen Verzahnung von Kino und Fernsehen geäußert. Andererseits sind Kinoproduktionen ohne Beteiligung der Sender in Deutschland eigentlich nicht zu realisieren. Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen den Medien und Formaten?

Wenn man puristisch denkt und Schlöndorff hat in dem Fall ja puristisch gedacht, dann ist eine Zusammenarbeit mit dem Fernsehen unter dem Gesichtspunkt, radikales Kino machen zu wollen, schwierig. Warum ist sie schwierig? Weil natürlich in allen Entscheidungsgremien im Bereich der Filmförderung auch Fernsehleute sitzen. Und da mag es in dem einen oder anderen Fall sein, dass man ein radikales Projekt nicht so ohne weiteres befürwortet. Auf der zweiten Seite, aus dem kinematografischen Blickwinkel, muss ich sagen: Natürlich ist es ein Unterschied, wenn ich auf 16mm einen Fernsehfilm drehe, vom dem ich weiß, dass er am Freitagabend um 20.15 Uhr laufen soll. Der bedient ein bestimmtes Genre, ist ja klar. Auf der anderen Seite, wenn ich heute im Unterhaltungsbereich einen Kinofilm mache, dann muss ich auch sagen, dass die Ästhetik sicherlich eine andere ist als das Fernsehen verlangt. Ich würde durchaus eine Trennlinie ziehen und behaupten, dass ein Kinofilm anderen ästhetischen Prinzipien gehorchen sollte.

Und insofern ist diese Anmerkung von Herrn Schlöndorff puristisch betrachtet nicht falsch. Auf der dritten Seite wissen wir alle seit Anfang der 1980er Jahre, dass das Fernsehen eine nicht unwesentliche Rolle bei der Finanzierung spielt. Und da habe ich persönlich immer großes Glück gehabt: Ich habe nie – wenn wir Filme für das Kino produziert haben – Fernsehredakteure erlebt, die mir spezifische Sehgewohnheiten aufoktroyieren wollten oder bei der Bucherstellung eingegriffen hätten, um zu sagen, so oder so soll der Film aussehen. Ob es Glück oder Durchsetzungsvermögen war, lasse ich mal dahingestellt. Wir haben uns die künstlerischen Partner immer nach diesen Kriterien gesucht. Und Volker Schlöndorff hatte nie ein Problem mit einem Fernsehredakteur bei "Der neunte Tag" oder "Strajk". Natürlich hat man sich bei der Abnahme gemeinsam den Film angesehen, ist ja keine Frage. Und natürlich gab es auch Kritik. Aber schlussendlich war es immer ein Schlöndorff-Film. Also, ich bin da nicht so besorgt, muss ich sagen.

Wenn Sie sich für die zukünftige Arbeit des Progress-Filmverleihs etwas wünschen dürften, was wäre das?

Nach wie vor, und da bin ich vielleicht altmodisch, wäre mein größter Wunsch, dass man doch mal verstärkt daran denken würde, sich in anderer Form und angemessener an der Erhaltung und Publikation des deutschen Filmrepertoires zu beteiligen. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Ich finde es ja immer toll, wenn die FFA jedes Jahr den Branchentiger auslobt und für so und so viele Millionen Zuschauer nach einem bestimmten Schlüssel Referenzmittel vergibt, die man für ein neues Projekt verwenden kann. Dieses gibt es im Bereich des Repertoirefilms überhaupt nicht. Und ich frage mich mit welchem Recht. Natürlich erreichen wir im Verlauf eines Jahrs hunderttausend Zuschauer, nur eben verteilt auf hundert oder mehr Filme. Das ist natürlich keine Zahl. Da sie aber nur an Zahlen gemessen werden, um in diese Forderung hineinzukommen, entsteht hier ein Ungleichgewicht.

Mein Wunsch an die Politik wäre zu sagen: Liebe Freunde, es gibt so und so viele Repertoireverleiher, ihr müsst auch das Repertoire mal nach einem anderen Schlüssel angemessen wirtschaftlich berücksichtigen. Denn hier wird viel Geld investiert. Und wenn das eines Tages nicht mehr möglich ist, weil das einfach links liegen gelassen wird, dann werden auch diese Filme eines Tages nicht mehr zu sehen sein. Und es ist auch eure Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass diese Filme nicht nur im Gedächtnis bleiben, sondern auch zu sehen sind. Daher wäre mein Wunsch, den klassischen Repertoirefilm stärker in eine Förderung einzubinden.

Ich werde da auch politisch aktiv werden. Ich habe bereits mit dem Verleiherverband gesprochen, rede auch mit der FFA darüber, und wir sprechen auch mit politisch Verantwortlichen. Da fängt es langsam an zu klingeln, und das Bewusstsein sollte man jetzt wachrufen. Und ich denke, wenn Kulturstaatsminister Neumann neulich über die Aufarbeitung des deutschen Filmerbes mit Blick auf die Hinterlegung von Kopien gesprochen hat, gilt es zu ergänzen: Nicht nur für die neuen, sondern auch für die alten Filme muss etwas getan werden.

Es geht im Grunde genommen um die Gesamtverantwortung eines Landes als nationale Filmkultur, sich hier stärker zu engagieren. Das sage ich nicht aus Eigennutz, sondern generell, denn das betrifft ja zum Glück auch noch andere Einrichtungen.

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