Filmdokumentaristen der DDR: Karl Gass

Evelyn Hampicke, Filmspiegel, Nr. 22, 1989

Wiederbegegnung mit einem Mitbegründer der Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche und mehrfachen Präsidenten der Internationalen Jury, Werkschau eines Mannes, der dem DDR-Dokumentarfilm eigene beachtenswerte Farbnuancen gab. Seit 1953 als Regisseur, Drehbuchautor, Sprecher oder in Personalunion tätig – dokumentieren seine Filme ein Stück 40jährige DEFA-Dokumentarfilm- und DDR-Geschichte. 1948 kam er vom NDR Köln zum Berliner Rundfunk, wechselte von der britischen in die sowjetische Zone des gespaltenen Nachkriegsdeutschland. Erfahrungen aus faschistischem Krieg, Gefangenschaft und unmittelbare Nachkriegszeit veranlaßten diesen Schritt und setzten immer wieder Schwerpunkte für sein späteres Schaffen.

1948-50 leitete Karl Gass die Wirtschaftsredaktion des Berliner Rundfunks, war Initiator und Leiter der Sendung "Wir schalten uns ein", war 1951 Textautor im DEFA-Studio für Wochenschauen und Dokumentarfilme. 1952/53 ist er Autor und Regiepartner Joop Huiskens, des Antifaschisten, der schon 1930 seinen ersten realistischen Dokumentarfilm drehte und seit 1946 für die junge DEFA arbeitete. Gass lernt beim Produzieren. In diese Zeit fallen seine ersten Arbeiten als Szenarist, Drehbuchautor und Regisseur. 35 Jahre waren seine Filme immer dem Tagesgeschehen verpflichtet, von politischem Engagement bedingt, von persönlichem Berührtsein geprägt. Sie sind aufschlußreiches Zeugnis, mit Gewinn zu studierendes Zeitdokument.

Zwischen seinem Regiedebüt "TäIm Paradies der Ruderer" (1953) und seinem neuesten Film "Jeder konnte es sehen" (1989) liegt ein ganzes Spektrum künstlerisch umgesetzter Themenkreise. Der Regisseur Gass war immer auch prototypisch für Aufbrüche im DEFA-Dokumentarfilm. Aus dem ersten Film spricht das Pathos der "Aufbau-Jahre". Aber bereits zu dieser Zeit wird ein Themenkomplex für ihn wichtig, den er in späteren Jahren immer wieder aufgreifen wird: Die filmische Dokumentation des den Produktionsprozeß schöpferisch beeinflussenden Menschen. So prägte er früh eine wesentliche, erst Anfang der 60er Jahre profilierte Linie des DEFA-Dokumentarfilms, die immer wieder belastet und umstritten war und für die Gass sich beharrlich einsetzte. 1953 entstand "Turbine I". Der Bericht einer Schnellreparatur. Später werden durch die Weiterentwicklung technischer Voraussetzungen gewachsene künstlerische Selbstäußerungen vor der Kamera möglich. Einflüsse des Cinéma vérité verarbeit Gass schöpferisch und erreicht mit "Feierabend" (1964) und "Asse" (1966) die Darstellung wirkungsvoller Gruppenporträts.

In all den Jahren nahm er regen Anteil an der internationalen Entwicklung. Filme über Italien und Griechenland zeigen Schönheit von Touristenländern und bitterste Armut der Bevölkerung. Emotional beeindruckendster Film zum Thema antiimperialistische Solidarität ist wohl "Allons enfants … pour l"AIgérie" (1961), in dem er leidenschaftlich für das um seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpfende Algerien Partei ergreift.

Sechs Jahre war Karl Gass Leiter des DEFA-Studios für populärwissenschaftliche Filme. Besonderes Verdienst erwarb er sich durch Nachwuchsförderung. Unter seiner Leitung profilierten sich Dokumentarfilmer wie Gitta Nickel und Winfried Junge, die längst selbst auf viele erfolgreiche Filme verweisen können. Die 80er Jahre seines Schaffens sind geprägt vom Aufarbeiten historischer Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft. Fragen nach Ursachen von Faschismus und Krieg, nach Möglichkeiten zur Friedenserhaltung bestimmen sein Alterswerk. Kompilationsfilme – wie "Eine deutsche Karriere", "Das Jahr 1945" und "Jeder konnte es sehen" – fanden ein Millionen-Publikum.

Vor allem die junge Generation ist angesprochen vom Zeitzeugen Gass. "Ich möchte mit meinen Möglichkeiten dazu beitragen, daß Erde und Menschheit das Jahr 2000 unversehrt erreichen". Trotz zahlreicher Arbeiten für das Fernsehen der DDR "schwört er auf Kino", wie er selbst formulierte. Ideen für zukünftige Dokumentarfilme sind längst noch nicht erschöpft, die Arbeit an seinem derzeitigen Projekt nimmt ihn voll in Anspruch.

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