Zugvögel - Einmal nach Inari

Deutschland Finnland 1996/1997 Spielfilm

Zugvögel – Einmal nach Inari


Ulrich von Thüna, epd Film, Nr. 7, Juli 1998

Eine Seltenheit: Erstlingsfilme, die so kunstlos daherkommen und zugleich so rund und schön sind, daß das Werk nahezu makellos zu sein scheint. Wer von solchen Debüts kantige, unruhige, jedenfalls nicht ausbalancierte Werke erwartet, wird vermuten, daß Peter Lichtefeld sich mit "Zugvögel" allenfalls für gehobenes Handwerk im öffentlich-rechtlichen Fernsehen qualifiziert hat und Aufregendes, Beunruhigendes nicht mehr folgen wird.

Ich will mir diese Sorgen nicht machen, weil man sich über den zweiten oder dritten Film erst unterhalten sollte, wenn er die Kinos und das Fernsehen erreicht. "Zugvögel", nach dem Urteil von Bettina Thienhaus bester Film beim Max-Ophüls-Preis Saarbrücken, war bei der Berlinale in der Reihe Neuer Deutscher Film ebenfalls der beste deutsche Film. Jetzt, beim Wiedersehen, hat er nichts von seiner stillen Nachdenklichkeit und seiner Zuneigung zu den Menschen verloren.

Die einfache, aber überraschungsreiche Geschichte einer Eisenbahnreise von Dortmund nach Nordlappland, die zugleich die Geschichte einer unfreiwilligen Flucht vor polizeilicher Verfolgung ist, wurde im Bericht aus Saarbrücken (Heft 3, S. 9) bereits skizziert. Das originelle Hobby von Hannes (Joachim Król), Fahrplanexperte zu sein, bestimmt den Charakter des Werks als Reisefilm, aber verrätselt auch die Wirklichkeit. Hinter den kryptischen Fahrplan-Zahlen stehen weite Räume, die durchmessen werden wollen und zugleich Optionen öffnen. So entscheidet sich Hannes bei der 25.000-£-Preisaufgabe schließlich für die schönste Route, die ihm seine Finnin Sirpa (Outi Mäenpää) empfohlen hatte und weiß oder ahnt dabei wohl, daß dieser Weg nicht der kürzeste (und damit gewinnträchtige) ist.

Die besondere Tonart des Films wird schon in der ersten Einstellung deutlich. Nach Bildern einer finnischen Seelandschaft sieht man in Großaufnahme eine Teekanne und ist sofort im deutschen Mief: Wir hören die Ansage des Verkehrsstudios des WDR mit den üblichen Staus. Wir sind im Ruhrgebiet, es ist Alltag, weder sonderlich heiter noch spannend. Lichtefeld ist realistisch: wir hören in Dortmund den einschlägigen Akzent und sehen sogar, Gipfel des Naturalismus, der Käsestulle des Bierhilfsfahrers an, daß er auf sein Brot keinen Camembert tut, sondern den in Plastik gehüllten und nach Plastik schmeckenden "Kraft"-Käse.



Der Regisseur liebt knappe Einstellungen, oft als Zwischenschnitt, mit unbewegter Kamera aufgenommen. Ein besonders hübsches Stück ist die ebenfalls mit unbewegter Kamera aufgenommene Glaskabine der beiden finnischen Polizisten, die auf den angekündigten Deutschen warten. Als er nicht kommt, wechseln sie ein paar Worte, die Jalousie fällt herunter und einige Sekunden später huscht als Schatten Hannes vorbei. Nächste Einstellung: Hannes im Abteil des Zuges nach Helsinki.

So lakonisch geht es in "Zugvögel" stets zu. Als Sirpa in ihre Wohnung zurückkommt und sich der abwesende Ehemann mal wieder nicht sehen läßt, fällt ihr Blick auf ihre verdorrten Blumen. Ganz ruhig, ohne auszurasten, sich nur eine Zigarette anzündend, schüttet sie mit der Gießkanne Wasser über den Computer ihres Ehemannes. Das wars.

Solche unterkühlt-skurrilen Szenen, zu denen auch die Begegnung von Hannes mit einem finnischen Ehepaar (Kati Outinen, Kari Väänänen) im Zug zählt, erinnern natürlich an die Brüder Kaurismäki. Bei einem Festival mit Aki und Mika Kaurismäki ist denn auch die Idee zu "Zugvögel" geboren worden. Der Film hat mit dem gängigen Normkino nichts zu tun und versagt es sich ebenso, trendy aufs Publikum zu schielen. "Zugvögel" ist auch, und das ist bei einer Fernsehproduktion nicht immer der Fall, optisch von großem Reiz. Der Regisseur und sein Kameramann Frank Griebe (Griebe hat bisher viel für Tom Tykwer gearbeitet) haben das eigenartig milde Licht Finnlands genutzt und zeigen es ohne jede Effekthascherei. Die Mitternachtssonne bleibt uns erspart. Beide wollen realistisches Licht haben und deshalb hat der Film die Anmutung eines Dokumentarfilms. Umso besser.

Die deutschen Darsteller, etwa Peter Lohmeyer als schlaksig-nachdenklicher Kommissar, brauchen nicht mehr gerühmt zu werden. Die tragende weibliche Rolle wird von Finnlands bekanntester Schauspielerin verkörpert. Wir müssen bis zum Ende des Films warten, anderthalb Stunden lang, bis sich Sirpa und Hannes einen ersten Kuß geben. Auch das ist normwidrig. Und paßt wunderbar zu dieser behutsamen Liebesgeschichte.


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