Berlin 1933 - Tagebuch einer Großstadt

Deutschland 2022/2023 TV-Dokumentarfilm

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Heinz17herne
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Teil 1. Herbst 1932. Die letzten schönen Tage vor dem Winter. Jeder dritte Berliner ist arbeitslos, Straßenschlachten und politische Morde beherrschen die Schlagzeilen der Presse. Zu Beginn des Jahres 1933 fallen die Temperaturen auf 20 Grad minus. Die Hausfrau Clara Brause versucht tapfer, den Alltag zu bewältigen, während die Probleme des jungen Assistenzarztes Willi Lindenborn ganz andere sind: Er muss wählen, mit welcher Verehrerin er sich im Café trifft, um anschließend ins Kino oder ins Varieté zu gehen.

Noch regieren bürgerliche Parteien die Stadt, aber die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler und die Kommunisten unter Ernst Thälmann stellen die größten Fraktionen im Reichstag. Joseph Goebbels jubelt in seinem Tagebuch über einen Aufmarsch der SA auf dem Bülowplatz vor dem Karl-Liebknecht-Haus und berichtet später von einem inspirierenden Besuch des „Rebell“-Films Luis Trenkers im Ufa-Palast. Als am 30. Januar Hitler mit Hilfe der Deutschnationalen um den mächtigen Verleger Alfred Hugenberg zum Reichskanzler gewählt wird, läuten bei der jüdischen Druckereibesitzersgattin Betty Scholem noch keine Alarmglocken: der rechte Spuk wird bald vorübergehen. Und der tschechische Diplomat Camill Hoffmann spottet, das von einem „Dritten Reich“ keine Rede sein kann, noch nicht einmal von einem „Zweieinhalbten“.

Admiral Ernst Raeder und General Curt Liebmann berichten von einem Treffen der ranghöchsten Militärs mit Hitler in der Reichskanzlei, während Berlins Bürgermeister Fritz Elsas seinem Tagebuch vor allem Belangloses und Privates anvertraut. Nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar, für den nach Polizeiakten angeblich der junge holländische Kommunist Marinus van der Lubbe verantwortlich sein soll, bläst Goebbels zur Kommunistenhatz. Verhaftungen, Versammlungsverbote, Pressezensur gehen mit der Besetzung wichtiger Posten durch Nationalsozialisten einher, kommentiert vom Publizisten Harry Graf Kessler, dem britischen Botschafter Horace Rumbold und dem amerikanischen Gewerkschafter Abraham Plotkin. Der Streit zwischen KPD und SPD verhindert einen Generalstreik.

Die Reichstagswahl am 5. März bringt für die Rechten nur eine hauchdünne Mehrheit, dennoch bauen sie ihre Macht konsequent aus: Auf Görings Schießerlass für die Berliner Polizei, den der Philosoph Ludwig Marcuse geißelt, folgt am 22. März das Ermächtigungsgesetz, dem auch das katholische Zentrum und die Staatspartei zustimmen. Der französische Botschafter Andre Francois-Poncet ist ein wacher Chronist der Ereignisse, zu denen auch die Gründung des ersten Konzentrationslagers im nahen Oranienburg und der von Goebbels ausgerufene Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April gehören.

Teil 2. Ende April 1933 sind die Nationalsozialisten seit drei Monaten an der Macht. Während Kommunisten, Sozialdemokraten und linke Arbeiterführer zu Tausenden hinter Gefängnismauern verschwinden, beobachtet der ohnmächtige Gewerkschaftsführer Theodor Leipart die Vorbereitungen zum „Tag der nationalen Arbeit“ am 1. Mai im Lustgarten und auf dem Tempelhofer Feld. Arbeiterdelegationen aus dem ganzen Reich werden eingeflogen und auf Hitler eingeschworen. Der dänische Diplomat Herluf Zahle konstatiert eine „wenig eindrucksvolle“ Rede Hitlers. Am nächsten Tag werden alle Gewerkschaftsgebäude besetzt und Akten weggeschafft, wie der US-Botschafter George A, Gordon berichtet.

Von der Bücherverbrennung, vom O-Ton des Deutschlandsenders begleitet, zeigt sich der eher unpolitische Bibliothekar Hermann Stresau ebenso entsetzt wie der französische Journalist Stephane Roussel. Und der polnische Korrespondent Antoni Graf Sobanski schämt sich gar, Zeuge dieses barbarischen Aktes gewesen zu sein. Betty Scholem erkennt in den Briefen an ihren Sohn Gerhard allmählich die Brisanz der Ereignisse für die eigene Familie, beklagt ihre „vollkommene Machtlosigkeit“. Willi Lindenborn zeigte schon immer vaterländische Begeisterung, nun tritt er in die NSDAP ein und lässt sich am Ende des Jahres als Arzt nach Recklinghausen („ein fürchterliches Nest“) versetzen.

Der US-Botschafter Edward Dodd berichtet von mindestens 100.000 politischen Gefangenen in Konzentrationslagern, während seine Tochter Martha die Farce des Reichstagsbrandprozesses verfolgt. Goebbels gelingt es, auch die Kultur gleichzuschalten, Propagandafilme wie „SA-Mann Brandt“ und „Hitlerjunge Quex“ kommen in die Kinos. Den Austritt aus dem Völkerbund lässt sich Hitler am 12. November durch eine Volksabstimmung mit 90-prozentiger Zustimmung bestätigen. Pompöses Weihnachten unterm Hakenkreuz: das Konkordat mit dem Vatikan hat dazu den Weg geebnet. Als das Jahr 1933 zu Ende geht, nimmt die Organisation „Kraft durch Freude“ ihre Arbeit auf und Leni Riefenstahls suggestiver Parteitagsstreifen „Sieg des Glaubens“ feiert Premiere.

Im 180-minütigen TV-Zweiteiler „Berlin 1933 – Tagebuch einer Großstadt“, eine Koproduktion der Zero One Film Berlin (Produzent: Thomas Kufus) mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg und Arte, den der deutsch-französische Sender am 24. Januar 2023 erstausstrahlt, enthält sich Volker Heise jeglichen Kommentars. Er lässt ganz unterschiedliche Zeitzeugen in Tagebucheinträgen und Briefen zu Wort kommen, nutzt amtliche Dokumente, Zeitungsberichte, O-Töne von Rundfunkreportagen, offizielle und private Filmaufnahmen. Seine allein mit ihrer Materialfülle eindrucksvolle Chronologie ist eine angesichts der globalen Ereignisse leider wieder sehr aktuelle Collage über das Ende einer Demokratie und den Beginn einer Diktatur. Sie leidet allerdings unter fehlendem historischem Bildmaterial, was besonders bei den beliebig unterlegten Aufzeichnungen Clara Brauses, Willi Lindenborns, Hermann Stresaus und Betty Scholems aus ihrem Privatleben zu Buche schlägt.

Pitt Herrmann

Credits

All Credits

Duration:
2 x 90 min
Video/Audio:
Farbe, Ton
Screening:

TV-Erstsendung (DE): 24.02.2023, Arte

Titles

  • Originaltitel (DE) Berlin 1933 - Tagebuch einer Großstadt

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Original

Duration:
2 x 90 min
Video/Audio:
Farbe, Ton
Screening:

TV-Erstsendung (DE): 24.02.2023, Arte