Thérèse Raquin

Deutschland 1927/1928 Spielfilm

Thérèse Raquin


Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 29.3.1928


Der nach dem Roman Zolas von Jacques Feyder gedrehte Film – das Manuskript stammt von Fanny Carlsen und Willy Haas – ist die Leistung eines außerordentlichen Stilgefühls. Man könnte die Wahl des Themas beanstanden: die Darstellung des Hasses, den Ehebruch und Gattenmord zeugen – aber diese ganze seelische Katastrophenfolge läßt sich auf der Leinwand widerspiegeln, da sie an das Milieu gebunden ist. Sonst widersetzt sich der Film gewöhnlich der Abbildung inwendigen Geschehens, das des Worts bedarf, um sich voll auszudrücken. Hier, in dem Zola-Roman, lebt die gesamte Umwelt die menschlichen Vorgänge mit, und in der Sprache der Dinge reden dann auch die Menschen. Eine solche Mitbenutzung und Auswertung des Milieus ist für die französische Literatur vor Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnend. Der Griff in sie ist aber nicht nur glücklich, weil er sich guter Filmszenerien versichert, sondern auch darum, weil er jene ganze Epoche herausholt. Sie gehört noch zu uns und hat doch schon begonnen, sich von uns abzulösen. Ihre Beschwörung von der Grenze zwischen Tod und Leben her hat einen eigentümlichen Reiz.

Wenn der Film etwas beweist, so dies: daß die entscheidende Spannung im Film weniger durch eine noch so krasse Handlung als durch die Schilderung von Zuständlichkeiten entsteht. Feyder hat mit Recht der Entwicklung des Milieus einen großen Raum gewährt. Er baut eine – übrigens sehr echt wirkende – Altpariser Passage auf und läßt sie durch verschiedene Lichteffekte so vielgestaltig werden, wie das Leben in ihr. Eine Musterleistung ist die Pariser Kleinbürgerwohnung, die von Gespenstern bevölkert ist; denn ihre einzelnen Möbelstücke sind noch von all den vergangenen Schicksalen geladen, die sich hier abgespielt haben. Da sind das Doppelbett, der hohe Lehnstuhl, das Silbergeschirr – sämtliche Dinge haben die Bedeutung von Zeugen, die menschliche Substanz ist spürbar in sie eingegangen und nun reden sie; besser oft, als Menschen zu reden vermögen. Kaum je noch ist in einem Film – von den russischen abgesehen – das Walten der toten Dinge so aktiv und gesättigt an die Oberfläche gezwungen worden wie hier.

Auch das Ineinandergreifen von Menschen und Dingen ist gelungen. Wenn Thérèse die Jalousien schließt, versinkt die Welt. Die düstere Pracht des Passagelädchens und die Treppe zur Wohnung sind mehr als nur der Rahmen für Mordereignisse: sie helfen von sich aus die Schrecknisse vorbereiten. Ein wundervoller Regieeinfall der Tanz Thérèsens mit Raquin im Zimmer: die Wände des Raums drehen sich, und durch ihren Wirbel tritt die innere Auflösung drastisch nach außen. Es versteht sich von selbst, daß Feyder die Führung der Kamera beherrscht. Er kennt die Macht des Details, und durch die plötzliche Wendung vom Gesamtbild zum Kragen Raquins vermag er den Abscheu Térèsens vor ihrem Mann sinnfällig zu spiegeln. Solche Einzelheiten im Film gleichen den Anekdoten, die breite Zusammenhänge erhellen.

Es ist die Frage, ob die Fruchtbarkeit der Handlung so genau hätte ausgesponnen werden sollen, wie es geschehen ist. Unser Berliner Korrespondent hatte bestimmt recht, als er bei Gelegenheit seiner Besprechung der Uraufführung die Möglichkeit der Schlußbilder in Zweifel zog, in denen durch die Anwesenheit der gelähmten Frau das leibhaftige Grauen Gestalt annimmt. Nicht so, als ob das Grauen dem Film sich verweigere; aber hier vermöchte nur die Sprache das Erlösende mitzuteilen, das dem Sinn der Handlung nach dem Grauen innewohnen soll. Was der Roman wiedergibt, geht im Film unter, und übrig bleibt nur das Entsetzen über den Abschluß, der in Ermangelung des Worts als endgültig erscheint. – Auch sonst hat der Film Mängel, die hauptsächlich der zu peinlichen Befolgung der Vorlage entspringen. Ganz schlecht ist die letzte Szene, die das Glück der Rolins versinnlicht. In der zweiten Hälfte hätte die Schere tüchtig arbeiten sollen, um unkräftige Wiederholungen zu beschneiden. Schließlich wäre ein großer Teil der Überblendungen überflüssig gewesen, die den toten Raquin dem schlechten Gewissen vorführen. Die Phantasie der Zuschauer bedarf solcher Handgreiflichkeiten nicht.

Die Thérèse von Gina Manes könnte von Manet gemalt sein. Durch diese Darstellerin wird die Romangestalt zur unvergeßlichen Figur. Wie sie dumpf die Kleinbürgerwelt haßt, wie sie sich mit einem Schlag aus der Ehefrau zur Geliebten wandelt, wie das elementarisch Böse aus ihr hervorbricht, wie sie in Ängsten wandelt – das ist vollkommen durchgebildet, wird ganz zur Erscheinung und ist zugleich in der Mimik französisch durchaus. Kaum weniger stark Marie Laurent als Mutter. Seine große Spielgabe beweist Wolfgang Zilzer in der Rolle des jungen Raquin, dem er vor allem das erforderliche dünne Wesen verleiht. Schlettows Laurent hält stand, ohne allzu sehr individualisiert zu sein. Die Nebenfiguren sind ausgezeichnet. Als Ganzes ist der Film ein erfreuliches Ereignis auf dem Weg der deutsch-französischen Verständigung. (...)

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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