Der Mörder Dimitri Karamasoff
Der Mörder Dimitrij Karamasoff
Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung, Nr. 115-117, 13.2.1931
Ahmt der Film die Wirklichkeit nach oder diese den Film? Jedenfalls häufen sich hier und dort die Mordfälle, und zweifellos besteht eine innige Wechselwirkung zwischen der gedichteten Kolportage und der gelebten. "Der Mordprozeß Mary Dugan"; "Der Mann, der seinen Mörder sucht"; "Der Mörder Dimitrij Karamasoff" – ein wahrer Blutrausch scheint sich der Filmindustrie bemächtigt zu haben. Von diesen drei in den letzten Tagen uraufgeführten Filmen transponiert der erste das bekannte Theaterstück auf die Leinwand, wo es der einförmigen Umwelt und der vielen Dialoge wegen nicht eigentlich hingehört. Den zweiten, der sich eine Tonfilmgroteske nennt, hat die Ufa von Robert Siodmak herstellen lassen, auf den die Öffentlichkeit anläßlich seiner Bildreportage: "Menschen am Sonntag" aufmerksam geworden ist. Diese neue Groteske bezeugt zwar immer noch die Begabung des jungen Regisseurs, verrät aber leider keine Substanz. Sie walzt ein literarisches Aperçu bis zur Bewußtlosigkeit aus, sucht groteske Effekte mit realistischen Mitteln zu erzielen und benötigt 100 Meter für Witzpointen, die eine bessere amerikanische Groteske auf 10 Meter zusammenpreßt. Unterwegs gehen natürlich die meisten Pointen verloren. Es bleiben nette Einfälle ohne Gehalt und gefällige Arrangements, die wenig zu arrangieren haben. Der Geist der Ufa schwebt über den Wassern.
Weit über das Gewohnte erhebt sich der im Capitol gezeigte "Karamasoff"-Film der Terra. Er ist, ich schreibe das mit vollem Bewußtsein nieder, der erste deutsche Tonfilm, der einen Vergleich mit den guten stummen Filmen aushalten kann. Durch ihn wird verdeutlicht, was viele Beurteiler nach den bisherigen Erfahrungen in Zweifel zogen: daß der Tonfilm eigene Möglichkeiten der Gestaltung hat. Hoffentlich wächst er sich zu einem geschäftlichen Erfolg aus, damit die deutschen Filmgewaltigen endlich erkennen lernen, daß sie auch in ihrem materiellen Interesse nicht mehr so weiter wirtschaften dürfen. Es ist die höchste Zeit, daß der Operettenkram und die übrigen Serienfabrikate aus den Kinos verschwinden.
Schon rein aus pädagogischen Gründen verlohnt sich die Analyse dieses ausgezeichneten Films. Was zunächst seine Handlung betrifft, so ist sie von Leonhard Frank aus dem Roman Dostojewskis herausgeschnitten worden. Man merkt sofort, daß hier nicht die üblichen Konfektionäre das Drehbuch geliefert haben. Denn anders als bei den üblichen Roman-Verfilmungen ist der epische Stoff nicht einfach als Unterlage für illustrative Szenen ausgenutzt, sondern von Grund auf in die Filmsprache übersetzt worden. Das heißt: Frank hat mit Recht keinen Anstand daran genommen, die vorgegebene Fabel so umzugestalten und zusammenzuschmelzen, daß sie nun eine Komposition darstellt, die aus den optischen und akustischen Mitteln des Films lebt, ohne zu ihrem Verständnis noch irgendeines Bezugs auf das außerfilmische Kunstwerk zu bedürfen.
Statt des barbarischen Mosaiks, das von den Routiniers gemeinhin zusammengestückt wird, gibt er ein Filmganzes, dessen Teile sich gegenseitig bedingen und tragen. Vielleicht hat er im Streben nach filmischer Einheit den dramatischen Konflikt ein wenig zu stark akzentuiert. Aber einmal entgeht er dadurch der Gefahr unverbundenen Flickwerks, die gerade dem Bearbeiter von Romanmanuskripten droht, und zum ändern ist gerade die Verwandlung der Romanepik in die Filmepik ein besonders schwieriges Unternehmen. Soviel ich mich entsinne, ist jene epische Form, die im Film gestaltet zu werden verlangt, nur in Ausnahmefällen bewältigt worden; etwa in einigen Russenfilmen und zu Beginn von "Térèse Raquin". Der Dichter des Manuskripts hat sie um der größeren Geschlossenheit willen vernachlässigt, und ich beklage mich auch nicht weiter darüber, sondern wünschte viel eher, daß die Konzentration eines Drehbuches den Leuten vom Bau zum Vorbild diente.
Außer Frank sind noch andere Künstler an dem Zustandekommen des Films beteiligt. Carol Rathaus hat die Musik besorgt, Erich Engel die Dialoge geleitet und Fedor Ozep die Gesamtregie geführt, der Russe Ozep, dessen herrliche Bordellszene im Film: "Der gelbe Pass" mir für immer im Gedächtnis haften wird. Ihrer gemeinsamen Arbeit ist vermutlich die Verwirklichung des Manuskriptes zu danken. Mit welchen Mitteln haben sie es in Szene gesetzt? Mit den großen des stummen Films, die seit langem in Vergessenheit geraten zu sein schienen. Hervorzuheben ist vor allem eine Lehre, die dieser Tonfilm erteilt: daß das gesprochene Wort nicht den Vorrang haben darf, sondern sich einordnen muß ins Bildgefüge. Auch der sprechende Film spricht vorwiegend zu den Augen. Bezeichnend genug, daß unter Ozeps Regie die Leitmotive in der Hauptsache optischer Art sind. Die Station mit der Eisenbahn, die in entscheidenden Augenblicken wiederkehrt; die Uhren, die eine wichtige Stunde vergegenwärtigen helfen; das Heiligenbild, das immer von neuem auf den Mord hindeutet; die Kerzen des Kronleuchters, die den Taumel versinnlichen – ihr Auftauchen erhält die Handlung in Gang und verleiht ihr den erforderlichen Rhythmus. Während die Masse der deutschen Tonfilme den Sinnzusammenhang jeweils aus den mehr oder weniger sinnlosen Dialogen, Schlagern usw. gewinnen möchte, setzt dieser Film dem falschen Prinzip das richtige entgegen, nach dem sich der Sinnzusammenhang in der Hauptsache aus den Beziehungen der optischen Elemente zueinander ergeben muß.
Besagt ihre Vorherrschaft, daß der Ton abzudanken hätte? Keineswegs. Er ist im Tonfilm genau so notwendig wie das Optische, wenn er nur nicht die Führung beansprucht. Auch das wird im "Karamasoff"-Film bewiesen, der ohne die stete Dazwischenkunft der Töne unzulänglich wäre, wie stark immer er visuell bestimmt ist. Ein Satz stellt den Übergang von einer Montageeinheit zur anderen her; die musikalischen Anknüpfungen an die Stationsgeräusche sind nicht zu entbehren; die akustische Überblendung zweier Gespräche, deren eines hinter einer Tür vonstatten geht, ergänzt den gezeigten Bildausschnitt; die Steigerungen des Bacchanals im Zigeunerhaus wären ohne die Tonmalerei nicht möglich.
Gewiß stützt sich der Film nicht auf die Musik und die Dialoge; aber das tönende Element ist ihm doch wesentlich und mehr als nur Zutat. Wie ein Stahlskelettbau auf die Mauerfüllungen angewiesen ist, so bedarf der echte Tonfilm der Geräusche und Worte, um sich zu schließen.
Nach alledem versteht sich beinahe von selber, daß sich die Bildmontage ungehindert entfalten kann. Frei wie in den guten Zeiten des stummen Films werden die Bilder miteinander assoziiert, und aus ihrem Fluß erstehen die wesentlichen Bedeutungen. Mag Ozep die Zeichensprache der Landschaft zu sehr belasten und die herrliche Zigeunerorgie über Gebühr dehnen – nicht jede Breite ist epische Breite –, er verfügt doch meisterlich über die Syntax der sichtbaren Weltbestandteile. Statt kunstgewerblicher Arrangements gibt er beredte Konstellationen; statt nichtiger Ausschnitte vielsagende optische Daten (ich denke etwa an den Blick auf die Tafel des alten Karamasoff). Und auch die Einmontierung des Tons ist von ihm in Gemeinschaft mit Rathaus treffsicher angepackt, worden. In dieser Hinsicht stehen wir allerdings erst am Beginn.
Kortner als Karamasoff: da fehlt kein I-Tüpfelchen, aber vielleicht überwiegt um eine Spur zu viel das Raisonnement. Seine Partnerin ist Anna Sten, eine Vampfassade, die wunderbar zusammenbricht, und unverbrauchte Liebe strahlt frei nach außen. Fritz Rasp und Max Pohl stehen durch ihre Kunst der Charakterisierung den Hauptspielern ebenbürtig zur Seite.
Nichts wäre unerfreulicher, als wenn der "Karamasoff"-Film den Anstoß zu einer Serie inhaltlich verwandter Filme gäbe. Schon meldet die Terra, wie ich zu meinem Schrecken erfahre, nach dem Erfolg dieses Werks einen zweiten Dostojewski-Film an. Als ob der Erfolg dem Stoff zuzuschreiben wäre und nicht dem filmischen Gehalt! Gerade die Stoffwahl des Films ist keineswegs vorbildhaft, und ich meine, daß sich in der heutigen Zeit wahrhaftig genug Themen finden lassen, die uns mehr betreffen als das Schicksal Karamasoffs. Was allein studiert und nachgeahmt werden sollte, ist der Versuch zur richtigen Gestaltung eines ernsthaften Tonfilms.
Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.