Scherben

Deutschland 1921 Spielfilm

Scherben


W. H–s. (= Willy Haas), Film-Kurier, Nr.123, 28.5.1921


Da es sich hier um einen Film ohne Titel (gemeint sind Stummfilm-Zwischentitel, Anm. d. Red) handelt (denn auch der einzige vorkommende Titel ist nicht unbedingt nötig), so ist es selbstverständlich, daß man sich vorerst mit der Ethik, Ästhetik, Metaphysik, Psychoanalyse und Astronomie des völligen Verzichtes auf das gesprochene und geschriebene Wort im Film überhaupt gründlich und prinzipiell auseinandersetzt. Zitate aus Lessings "Laokoon" wären wünschenswert, eine Klärung der Frage aus diesem Anlaß unbedingt notwendig…

Nämlich für den, dem"s Spaß macht. Mir nicht.

Wahr bleibt jedenfalls, daß das Wesentlich-Filmhafte, die Stärke des Filmausdruckes und die (sehr enge) Grenze des Filmausdruckes sich hier viel ausgeprägter zeigen, als im Titelfilm. Die Dialogmöglichkeiten sind (auch wenn man das ausdruckvollste Gesicht der deutschen Bühne, das des Werner Krauß, vor sich sieht) ganz primitiv; bestenfalls imstande, das untermenschlich einfache Schema einer tausendmal gegebenen, gewissermaßen im Beschauer von selbst sich einstellenden Bühnensituation anzudeuten.

Aber unglaublich stärker als im Drama ist, ich möchte sagen: das Einheitliche, Fließende, Rhythmische, die Strophe, der Vers, der Refrain, die zitternde Melodie der Luft, die Dumpfe der Erde, des Alltags, die Tragik der Zeiten, der Glockenschlag des Ewig-gleichen und das Rätselhafte des dennoch Fremden im Ewig-gleichen. Der Film kann ein Bahngeleise zeigen von einer ewigen Länge. Und den Bahnwärter, der wandert, wandert, wandert…endlos: ein Menschenleben lang – man fühlt es. Der Aufnahmeapparat wandert mit – endlos. Das kann die Bühne niemals herausbringen: ein Lebenssymbol, das ihr verschlossen ist. Das sind die wahrhaft filmtragischen Stellen; und an diesen Stellen fehlt das Wort nicht. (...)

Das Manuskript Carl Mayers steht, auch als Manuskript, haarscharf in derselben Situation. Sein ganz genauer Filminstinkt vereinfacht die Handlung von Film zu Film mehr. Hier machte die Einfachheit eben den Titel entbehrlich. (...)

Hebbels Meister Leonhard sagt: "Ich verstehe die Welt nicht mehr" – ein stummes Gesicht sagt dasselbe stärker. Und langsam verändert sich hinter diesem Gesicht das Bild des Ganzen, dieses Bild eines konventionellen Dramas, das uns unsere eigene Konvention gemalt hat und ein anderes, wahres Bild taucht auf, ein starker, dunkler, tiefer, langgezogener Ton, wie Harmonium, Celli, Viola, Violinen…eine neue Musik, der Volksballade nahe, vielleicht sogar dem Marterl der bayrischen Berge oder der grausigen Mordgeschichte, schaudernd an langen Winterabenden erzählt, weitererzählt von Bauernhaus zu Bauernhaus; kein Drama, sondern etwas ganz Neues. (...)

Rechtsstatus