Scherben

Deutschland 1921 Spielfilm

Scherben


H. W. (= Hans Wollenberg), Lichtbild-Bühne, Nr. 22, 28.5.1921


Durch das winterliche Waldgebirge laufen die eintönigen Parallelen des Bahngleises. Wenn der Zug hindurchbraust und der Reisende den Blick von seiner Zeitung oder von seinem Teller im Speisewagen zum Fenster wandern läßt, sieht er nichts als den dicken Schnee auf den Bergrücken, auf den Tannenzweigen, auf den Telegraphenstangen und den Signallaternen an den Weichen. Ein Bahnwärterhäuschen huscht am Fenster vorbei und ist verschwunden – wie etwas Traumhaftes versunken ins Nichts für das Bewußtsein der Hunderte, die im Zuge diese Täler Tag für Tag durchqueren.

Und doch beherbergt auch diese Hütte ein Stück Leben. Und doch hausen auch in ihr Menschen mit ihren Gedanken, mit ihren geheimen Sehnsüchten und schweren Träumen. Freilich, für den alten Streckenwärter scheint das Leben sein Dienst. Gleichförmiger Wechsel zwischen Wache, Patrouille, Schlaf und Mahlzeit. Und doch birgt das Leben auch für ihn noch mehr: sein Kind. Der Glauben an die Ehre seiner Tochter ist der Eckpfeiler, an den dieses anspruchslose Dasein sich anlehnt. –

Die Tochter ist wie ein einsam blühender Waldrosenstrauch in dieser Einöde. Noch weiß sie nichts von der Welt. Noch hat niemand ihren Duft geatmet. Wer wird es sein – wer wird die Blüte brechen? – Neben Vater und Tochter endlich die Mutter. Ganz Mutter, sich erschöpfend in häuslichem Pflichtenkreis. – So leben die Drei; und kennen und halten das Glück, ohne es zu wissen: "Glücklich, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt ....".

In dieses Idyll schickt das Leben, die Welt ihren Sendboten. Ein Vorgesetzter des Streckenwärters ist es, der für ein paar Tage als Gast in dessen Häuschen zieht.. Er nimmt das junge Weib – dann überläßt er sie der Pein. Die Mutter stirbt zu Füßen des Heilands im tiefen Schnee. Der Vater nimmt Rache und bekennt: "Ich bin ein Mörder". Drei Tage, in denen ein Glück in Scherben geht. Ein altes Märchen – und doch ewig neu, wenn es ein Dichter wie Carl Mayer zum Manuskript formt, wenn ein Lupu Pick es sichtbarliches Konterfei des Geschehens werden läßt, wenn ein Krauß, eine Edith Posca, eine Hermine Straßmann-Witt, ein Paul Otto aus schöpferischem Erleben heraus Menschen schaffen.

Ein meisterhaftes Filmwerk. Die Tage, Stunden, Minuten rinnen dahin in und um die Bahnwärterhütte. Da bedarf es keiner Zwischentexte. Was geschieht, ist nicht Schein, sondern wirkliches Geschehen, von der Photo-Linse wie zufällig festgehalten. Geschehen freilich, das bis ins kleinste Detail von verhaltener Dramatik vibriert.

Das packt, das wirkt, das ist Wahrheit, das ist Film! Nicht äußere Sensationen machen"s, sondern die überwältigende innere Wucht, die den Menschen in einem jeden von uns ergreift.

Ein guter Film, so hörte ich, ist der, der dem simplen Proletarierkind ebensoviel zu bieten weiß, wie dem differenziert empfindenden Sprößling der Tiergartenvilla. Hier ist dieser Film!

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