Der DEFA-Dokumentarfilm

Quelle: DIF© DEFA-Stiftung
Szenenfoto "Leben in Wittstock" (1984)
 

Zu einem bedeutenden Produktionssektor konnte sich in der DDR der Dokumentarfilm entwickeln. In eigenen, mehrfach umstrukturierten und umbenannten Studios, z.B. im DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme (1952-68) und im DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme, entstanden Tausende von Filmen. Neben zahlreichen Auftragsproduktionen für Fernsehen, Ministerien, Betriebe und Organisationen entwickelten sich – dank der sicheren Einbindung in das staatlich geförderte (und kontrollierte) Produktionssystem – auch eigene Traditionen und Genres.

 

Traditionen: Geschichte als Anregung und Auftrag

Der DEFA-Dokumentarfilm knüpfte in den frühen Jahren personell und stilistisch an die bedeutende Kulturfilm-Tradition der Ufa an. Ulrich K. T. Schulz, seit Anfang der 1920er Jahre einer der Pioniere des Biologie-Films, arbeitete noch bis in die 1960er Jahre bei der DEFA. Regisseure wie Kurt Maetzig, Richard Groschopp, Gerhard Klein und Heiner Carow begannen beim Dokumentarfilm, ehe sie zum Spielfilm wechselten. Neben den – vor allem der Selbstbestätigung dienenden – Berichten über die Aufbauarbeit in Industrie und Landwirtschaft war bis in die 1980er Jahre ein vorherrschendes Thema die antiwestliche, vor allem gegen die Bundesrepublik oder die NATO gerichtete Propaganda. "Entlarvungsfilme" – z.B. die von Andrew und Annelie Thorndike betreute Serie "Archive sagen aus" – versuchten mehr oder weniger authentisch, Bonner Politikern und Militärs ihre nazistische Vergangenheit vorzuhalten. Ein Hauptwerk dieser Tendenz war das von den Thorndikes mit großem Aufwand und viel unbekanntem Archivmaterial produzierte Zeitpanorama "Du und mancher Kamerad" (1954-56) über die Rolle von Armee und Wehrmacht in Deutschland. Ihr Schüler Karl Gass, der – wie andere Dokumentar-Stars – im Rahmen einer eigenen künstlerischen Arbeitsgruppe des DEFA-Studios weitgehend selbstständig arbeiten konnte und sich jahrelang überwiegend Reportagen aus dem In- und Ausland widmete, drehte nach dem Mauerbau den langen, gegen West-Berlin gerichteten Film "Schaut auf diese Stadt". Später wandte er sich – unterstützt vom Autor Klaus Wischnewski – historischen Themen zu, wie z.B. mit "Das Jahr 1945".

Heynowski und Scheumann

Quelle: CineGraph, XI. Internat. Kurz- und Dokumentarfilmwoche Leipzig 1968. Aufnahme: Podszuweit, Goldner
Gerhard Scheumann (rechts) und Walter Heynowski (Mitte)
 

Eine propagandistisch geschickte, wenn auch methodisch und ethisch oft fragwürdige Mischung aus Dokumentation und Interviews machten eine Zeitlang Walter Heynowski und Gerhard Scheumann zu den international berühmtesten Dokumentarfilmern der DDR. Als solche wurden sie auf Festivals, vor allem dem als Schaufenster dienenden internationalen Dokumentarfilm-Festival in Leipzig, mit Preisen überschüttet. Sie arbeiteten – abgesichert durch Aufträge des DDR-Fernsehens, das nicht der Hauptverwaltung Film (HV Film), sondern direkt der SED-Propagandaleitung unterstellt war – relativ selbstständig in ihrem Studio H&S, das sie zu einem kleinen Medienkonzern ausbauten: Zu fast allen ihren Filmen erschienen Begleitbücher, Retrospektiven mit selbstverfertigten Broschüren wanderten um die Welt. Außer der Anti-Bonn-Polemik widmeten sie sich hauptsächlich dem "Internationalismus" und "Imperialismus", indem sie die jeweils aktuellen Konflikte und postkolonialen Kriege zu ihrem Thema machen: Auf "Der lachende Mann" von 1965/66, ein (erschlichenes) Interview mit dem zynischen Söldner Kongo-Müller, folgten Zyklen über den Vietnam-Krieg (u.a. der fünfstündige Mehrteiler "Piloten im Pyjama" von 1967/68 und "Die Teufelsinsel" von 1975/76) und Chile während und nach dem Putsch ("Der Krieg der Mumien", 1973/74; "El golpe blanco", 1974/75).

Porträts und DDR-Alltag

Quelle: CineGraph, © DEFA-Stiftung
Col. Robinson Risner in "Piloten im Pyjama" (1967/68)
 

Neben den hauptsächlich der Propaganda dienenden Filmen entwickelte sich seit den 1960er Jahren eine stillere, künstlerisch besonders bedeutsame Richtung des DEFA-Dokumentarismus. Diese wandte sich in differenzierten Porträts dem Schicksal einzelner Personen oder kleiner Gruppen zu. Typisch für Dokumentarfilme dieser Richtung ist der Wechsel zwischen Künstlerporträts, Beobachtungen aus dem DDR-Alltag und – für die Filmemacher oft als Belohnung und Lockung gedachte – Reiseberichten aus aller Welt. Bedeutendster Vertreter dieser Richtung war der auch als Maler (unter dem Namen Strawalde) und Experimentalfilmer (u.a. "Potters Stier", 1981) renommierte Jürgen Böttcher. Mit Unterstützung vor allem seiner Kameraleute Christian Lehmann und Thomas Plenert produzierte er formal und emotional eindringliche Arbeiten: Ende der 1970er Jahre "Martha" über eine alte Berliner Trümmerfrau, 1984 "Rangierer" über Eisenbahner bei der Arbeit. Wie Karlheinz Mund porträtierte Gitta Nickel ebenso Künstler wie in "Paul Dessau" (1974) wie auch mit "Gundula – Jahrgang 58" eine als Schlagersängerin tingelnde Krankenschwester.

  Quelle: FMP© FMP, Günter Linke
Konrad Wolf und Werner Bergmann (v.l.n.r.)
 

Volker Koepp zeichnete poetische Landschaftsbilder ("Hütes-Film") und verfolgte in seinen "Wittstock"-Filmen (u.a. "Mädchen in Wittstock" von 1975 und "Neues aus Wittstock" von 1992) über Jahrzehnte das Schicksal einiger Frauen, die in der DDR-Provinz in einem Textilbetrieb arbeiten. Eine ähnliche, noch breiter angelegte Langzeitbeobachtung drehten ab 1961 – auf Anregung von Karl Gass – Regisseur Winfried Junge und Kameramann Hans-Eberhard Leupold über eine Gruppe Erstklässler in Golzow im Oderbruch. Daraus entstand in über 40 Jahren ein monumentales Filmwerk aus kurzen Einzelfilmen, zusammenfassenden Längsschnitten und Einzelporträts der aufwachsenden "Kinder von Golzow", wobei der über vierstündige "Lebensläufe" (1980/81) den auch künstlerisch geschlossensten Überblick bietet.Ein inhaltlich und stilistisch völlig anderes großes Dokumentarprojekt – das so nur unter den besonderen Bedingungen des DDR-Filmwesens möglich war – realisierte Konrad Wolf 1981: Bei "Busch singt" wirkte Wolf als künstlerischer Leiter einer Gruppe, zu der u.a. auch Erwin Burkert, Peter Voigt, Reiner Bredemeier, Eberhard Geick und Doris Borkmann gehörten. In sechs Filmen entstand anhand der Biografie des Schauspielers und Sängers Ernst Busch ein Geschichtspanorama der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Letzte Bewegungen

  Quelle: FMP© FMP, Günter Linke
Helke Misselwitz, 1989
 

Während die 1980er Jahre im DEFA-Spielfilmstudio – wo zudem Regisseurinnen zu den großen Ausnahmen gehörten – weitgehend von Stagnation gekennzeichnet waren, meldeten sich auf dem Gebiet des Dokumentarfilms jüngere Talente. Zu ihnen gehörten Petra Tschörtner und Helke Misselwitz. Misselwitz erregte 1988 mit ihren Frauenporträts in "Winter adé" Aufsehen, ehe sie zum Spielfilm wechselte. Im gleichen Jahr dokumentierte auch "Flüstern und Schreien" von Dieter Schumann und Jochen Wisotzki die Stimmung unter den Jugendlichen in der DDR; diesmal am Beispiel von Rock-Gruppen. Im Herbst 1989 reagierten junge und alte Dokumentarfilmer der DEFA als erste auf die "Wende" und dokumentierten die eskalierenden Ereignisse – wie auch die positiven und negativen Auswirkungen der Vereinigung. Nach einigen undurchsichtigen Manövern der Treuhand-Anstalt wurden zum Jahreswechsel 1990/91 alle kreativen Mitarbeiter des zur GmbH umgewandelten DEFA Studios für Dokumentarfilme entlassen. Einige der renommierten Regisseure konnten eingeschränkt ihre Arbeit, vor allem für die ostdeutschen Fernsehstationen, fortsetzen.