Yara

Deutschland Türkei Schweiz 1998 Spielfilm

Seelenreise

Wie Figuren in einem Brettspiel: "Yara", ein Film von Yilmaz Arslan


Daniela Sannwald, Frankfurter Rundschau, 24.06.1999

Männer in weißen Kitteln stehen, bewegungslos und ordentlich aufgebaut wie Figuren in einem Brettspiel, am Meeresufer, vor ihnen ein junges Mädchen im Nachthemd mit gesenktem Kopf. Es ist immer der gleiche Traum, der Hülya verfolgt, die direkt nach dem Aufenthalt in einem deutschen Krankenhaus von ihrem Vater zu Onkel und Tante in die Türkei geschickt wurde. Nun sitzt sie auf der Terrasse eines ärmlichen Häuschens in Anatolien, verweigert das Essen und das Sprechen und starrt in die Ferne. Onkel und Tante meinen es gut mit ihr, aber sie will nur eins: zurück nach Deutschland, wo sie aufgewachsen ist.

Nach einem handgreiflichen Streit mit dem Onkel packt sie ihren kleinen Rucksack voll Tabletten und flieht, ohne Paß und ohne Geld, als blinde Passagierin auf einem Lastwagen – bis sie merkt, daß der in die falsche Richtung fährt; es folgt eine lange Reise, an deren Ende sie, unterstützt von wohlmeinenden Weggefährten, schließlich nach Istanbul gelangt. Dort findet sie ihre vom Vater in Deutschland geschiedene und inzwischen wieder verheiratete Mutter, die sich nicht traut, der neuen Familie zu sagen, daß Hülya ihre Tochter ist und sie statt dessen als Nichte ausgibt. Hülya flieht weiter, lebt mit einer Gruppe von Straßenjungen am Rand der Stadt, wird von der Polizei aufgegriffen und landet zunächst im Gefängnis und dann in einer psychiatrischen Anstalt, wo sie, sediert und vernachlässigt, vor sich hinvegetiert. Am Ende scheint die Erlösung in Gestalt der Freundin aus Deutschland nah ...

Yara beginnt als klassisches Road Movie, das nicht nur den topographischen Reichtum der Türkei zeigt, sondern auch die Vielfalt der Lebensweisen. So sehen wir Hülyas Tante verstohlen rauchen, wenn ihr Mann nicht zu Hause ist. So lesen Landarbeiterinnen das bewußtlose, kranke Mädchen auf und bringen es in ihr Dorf, wo der Hodscha, der Koranlehrer, Gebete an ihrem Lager murmelt, während die Frauen sie mit dem Rauch verbrennender Kräuter behandeln. Und ein fahrender Puppenspieler überredet Hülya schließlich zum Essen, indem er durch seine Marionette mit ihr kommuniziert.



Aber viel zu früh wird das Road Movie zum Psychiatriefilm, der kein Klischee ausläßt: nicht die sadistische Wärterin, nicht den ignoranten Arzt, nicht die häßlichen, schlampigen Patientinnen. Ab jetzt steht der Film einfach still. Es gibt keine Entwicklung, keine Veränderung mehr, und man beginnt zu überlegen, ob Hülya nicht dort ganz gut aufgehoben ist, wo sie nun erst einmal festsitzt. Denn längst schon geht einem die junge Frau mit ihrer regressiven Verweigerungshaltung auf die Nerven, wozu das ausdrucksstarke, mitunter gar exaltierte Spiel ihrer Darstellerin Yelda Reynaud einiges beiträgt. Wenn Hülya spricht, dann nur mit Kindern, und sie verfällt dabei in den Habitus von Fünfjährigen. Neben ihr wirken die kleinen Straßenbengel vernünftig und realitätstüchtig. Man vermag nicht nachzuvollziehen, welche Ereignisse Hülya traumatisiert haben – "yara" ist das türkische Wort für Verletzung – und warum sie unbedingt nach Deutschland zurück will, wenn sie doch offenbar dort schon erkrankt ist. Auch die immer wiederkehrenden Traumbilder vermögen trotz Überbelichtung das Dunkel der Vergangenheit nicht aufzuhellen. Schließlich stellt der Film keine Verbindung her zwischen den während der Reisesequenzen vorgestellten türkischen Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten und denen, die in der Psychiatrie landen. Zwar hat man mitunter das Gefühl, daß es die Lebensbedingungen sind, die sie krank werden ließen, aber man weiß es nicht. Man weiß auch nicht, ob Hülyas größte Feindin nicht sie selbst ist, ob sie darunter leidet, zwischen zwei Kulturen aufgewachsen zu sein oder in einer pubertären Identitätskrise steckt. Und man will es irgendwann auch nicht mehr wissen.

© Daniela Sannwald

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