Inhalt
Auf der Ranch beugen sich die Bullen nicht widerstandslos dem Willen der Menschen. Und auch die Menschen neigen immer wieder dazu, aus den traditionellen Formen von Familie und Ehe auszubrechen. "Nuestro Tiempo" malt in atemberaubenden Bildern das Sittengemälde einer zerfallenden Gesellschaftsschicht, die ihre eigene Ordnung allzu lang für naturgegeben hielt.
Quelle: Deutsches Filmmuseum
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Juan, der von seinen Leuten als „Farmer“ angesprochen wird, und die auf der Hacienda nur „Chefin“ titulierte Ester führen eine scheinbar glückliche Ehe, wozu Gelassenheit auf beiden Seiten beiträgt: Sie haben sich gegenseitig totale Offenheit und Ehrlichkeit versprochen – und Toleranz bei erotischen Seitensprüngen. Das ändert sich, als mit Phil Russell ein attraktiver Pferde-Einreiter zu Gast ist, der sich auf der Farm, die Rinder speziell für die Stierkampf-Arena züchtet, weiterbildet für einen neuen Job. „Phil ist ganz witzig für einen Gringo“ berichtet Ester, die nach Mexiko City gefahren ist, um die Homepage der Farm zu installieren, und den Amerikaner im Auto mitgenommen hat, ihrem Mann. Der misstrauische Juan checkt nach ihrer Rückkehr Esters Handy – und hat allen Grund für sogleich ausbrechende Eifersucht. Auf dem Land hat es den lange ersehnten Wolkenbruch gegeben, in der Hauptstadt ist es zu einer kaum weniger heftigen Eruption gekommen.
„Du hast mir noch nie nachspioniert“ beklagt sich Ester, nachdem Juan ihr 17 Handy-Anrufe eines „P“ vorgehalten hat. „Du hast mich auch noch nie belogen“ antwortet ein schwer gekränkter Gatte, der, um nicht vollends die Kontrolle über Ester zu verlieren, das Gespräch mit Phil sucht. Denn für ihn ist Liebe vor allem Besitz – und das Eheversprechen eine lebenslange Versicherung. Als die Nachbarin Paz (Paz Vano) zu Besuch ist, chattet Ester lieber mit Phil statt in die Rolle der Gastgeberin zu schlüpfen. Juans Strategie: Er gibt Ester frei – auch für andere gute Freunde des Hauses. Und schaut der fantasielosen Rammelei aus der Schlüsselloch-Perspektive auch noch zu. Was er nicht erkennt: die Beziehung zwischen seiner Frau und Phil besteht nicht nur aus Sex.
Sondern aus Gefühlen, die seiner eigenen Poesie, welche er bei einem Schriftsteller-Kongress vor begeistertem Publikum offenbart, durchaus entspricht. Noch in der Nacht nach seiner Lesung geht Juans Psycho-Terror gegen seine Gattin weiter: obwohl sie sich erkennbar schlecht fühlt, soll sie beim Skypen ihre Brüste präsentieren. Ester als sein Sex-Objekt, das er nach Belieben zu benutzen trachtet – mit ein Grund für ihre Liaison: Endlich denkt Ester einmal an sich selbst und nicht nur an ihren allseits bewunderten Gatten. Der lieber voyeuristisch dem genussvollen Liebesspiel von Ester und Phil zuschaut als der offenbaren Werbung Michelles (Carolina Kleinman) nachzugeben.
Juan besucht seinen totkranken Freund Pablo Fendol (Joaqin del Paso): der unheilbar an Krebs Erkrankte verbringt seine letzten Tage im Kreis seiner schwangeren Ehefrau und vieler Freunde. Im Gegensatz zu Juan hat er seinen Frieden mit sich, der Welt und dem unvermeidlichen Lebensende gefunden. Ester, durch die Liebe zu Phil verwandelt, wird, auch als dieser seiner Profession in seiner weit entfernten Heimat nachkommt, nicht wieder in alte Rollenmuster zurückfallen. Kann Juan das akzeptieren?
In „Nuestro Tiempo“ setzt sich der mexikanische Filmemacher Carlos Reygadas, der Regisseur, seine Lebensgefährtin Natalia López und ihre Kinder Eleazar und Rut spielen auch die Hauptrollen, mit Begriffen wie Liebe, Verlangen, Toleranz, Loyalität und Treue auseinander und fragt: Wie wird Liebe zur Obsession? Kann Freiheit in Zwang umschlagen? Wie in seinen preisgekrönten Filmen „Japón“ (2002) oder „Stilles Licht“ (2007) erzählt Reygadas binnen bisweilen langer drei Stunden eine mit auf großer Kinoleinwand faszinierenden poetischen Naturaufnahmen durchsetzte autofiktionale Dreiecks-Geschichte. Die, etwa wenn ein wild gewordener Stier ein Zugmaultier auf die Hörner nimmt, nichts für zarte Gemüter ist. Ungewöhnliche Kamera-Perspektiven (Motorraum des Pick Up der Farm) ergänzen Verfremdungs-Effekte wie den Off-Kommentar aus altklugem Kindermund („Esters Schmerz wird sich in Hass verwandeln“) oder die deutsche Uniformjacke Juans beim Stierkampf-Training mit jungen Rindern.
Der 175-minütige Film zur Musik von Genesis, Alfred Schnittke und King Crimson feierte am 5. September 2018 seine Premiere im Wettbewerb des Filmfestivals Venedig, startete am 27. Juni 2019 in den deutschen Kinos und wird am 26. Juli 2021 unter dem Titel „Unsere Zeit“ auf Arte im Free-TV erstausgestrahlt.
Pitt Herrmann