Anatomie

Deutschland 1999 Spielfilm

Anatomie

Stefan Ruzowitzkys Mainstream-Popcorn-Multiplexfilm

Frank Arnold, epd Film, Nr. 2, 02.02.2000

 

"Die einen studieren. Die anderen werden studiert" – zumindest mit dem Motto muss sich dieser Film nicht hinter den angestrebten Vorbildern des US-Mainstream-Kinos verstecken. Bei "Anatomie" handelt es sich um die erste Produktion der deutschen Filiale des US-Majors Columbia Pictures: ein Genrefilm nach amerikanischem Vorbild, in den man entsprechende kommerzielle Erwartungen setzt – er soll mit ca. 400 Kopien gestartet werden. "Anatomie", so sagt Autor und Regisseur Stefan Ruzowitzky, "war von Anfang an als Mainstream-Popcorn-Multiplexfilm" geplant. Er wäre also weniger zu messen an Ruzowitzkys "Tempo" und "Die Siebtelbauern" als an vergleichbaren US-Filmen.

Protagonistin von "Anatomie" ist eine Medizinstudentin namens Paula (Franka Potente). Ihrem Traum vom Dasein als erfolgreiche Medizinerin ist sie gerade ein Stück näher gekommen: Während der Sommermonate wird sie an einem Forschungslehrgang in Anatomie teilnehmen, bei dem berühmten Professor Grombek in Heidelberg. Den entsprechenden Leistungstest hat sie immerhin als Zweitbeste ihres Jahrgangs bestanden.

Bei der anfänglichen Skizzierung setzt der Film auf bewährt Vertrautes: die Heidelberger Idylle, die älteren Kommilitonen zwischen ehrgeizigen Karriereplänen und althergebrachten Medizinerstreichen. Dass die Idylle eine trügerische ist, demonstriert der Film allerdings schon mit einer dem Handlungsbeginn vorangestellten Sequenz, in der jemand auf dem Operationstisch erwacht und begreifen muss, dass er soeben das Opfer medizinischer Experimente wird.

Bald sucht der reale Schrecken auch Paula heim – ein Junge, den sie während der Zugfahrt nach Heidelberg kennengelernt hatte, begegnet ihr wieder als Leiche auf dem Seziertisch. Zwar litt David an einer seltenen Krankheit, doch Paulas Beharren auf einer rationalen Erklärung lässt sie auf eigene Faust Nachforschungen anstellen, die Ungereimtheiten zu Tage fördern. Schließlich stößt sie auf einen Geheimbund, die auf Forschung fixierten "Antihippokraten". Kein Zufall, dass der Bund seine letzte Blüte während des Dritten Reiches (ausgerechnet in Heidelberg) hatte, bevor er verboten wurde.

Ein deutscher Genrefilm, der den amerikanischen Produkten Paroli bieten will und dessen Regisseur weder zu jenen vom Fernsehen verschlissenen Routiniers gehört noch sich für den nächsten Tarantino hält: Das ist auf jeden Fall eine interessante Angelegenheit. Zumal, wenn der Regisseur es gerade nicht auf die – als "postmodern" deklarierte – ironische Stilisierung bestimmter Genremuster abgesehen hat, sondern eher klassisches Geschichtenerzählen im Sinn hat. Wie verhält sich dieses Produkt zu den Erfahrungen des Kinopublikums? Wo bietet es ihm durch die souveräne Beherrschung von Genreregeln Orientierungspunkte? Und wo die – weiterdenkende – Abweichung davon? Sind seine Abweichungen von Konventionen listige Regelverstöße oder vielmehr Resultate mangelnder Genrebeherrschung? Und inwieweit gelingt es ihm zuguterletzt, bundesdeutsche Realitäten in seine Geschichte mit einzubeziehen?

Einerseits beherrscht Ruzowitzky die Regeln: Am Ort frühen Schreckens trägt sich auch das Finale zu – nur dass es jetzt kein Spiel mehr ist, sondern blutiger Ernst. Auch die zentrale Thriller-Regel, dass dem Anschein nicht zu trauen ist, beherzigt er.

Andererseits bleiben die Charaktere eher flach, mit Ausnahme der "alten Garde": Traugott Buhre als väterlich-autoritärer "Anatomie"-Professor versteht es ebenso seine Figur knapp zu umreißen wie Rüdiger Vogler den "idealistischen" Mediziner/Vater. Die Jungen dagegen sind eher Typen als Individuen, und wo der Film ein abweichendes Profil beschreibt, da akzentuiert er dies bis zur Überdeutlichkeit: Paulas Zimmergenossin Gretchen erscheint als vorrangig am Sex interessiertes Wesen, von der Paula und die Zuschauer allerdings später erfahren, dass sie in dem Test, den Paula als Zweitbeste bestanden hat, die Beste war. Das sorgt immerhin für den hübschen Dialogsatz: "Glaubst Du, irgendein Mann kriegt noch einen hoch, wenn er weiß, dass mein IQ um 50 über seinem liegt?!" Daneben enthalten Gretchens Äußerungen weitere Spitzen gegen den Gebrauchswert männlicher Sexualpartner.

Während "Anatomie" fast ausschließlich aus der Perspektive von Paula erzählt, versäumt er es, ihren Kommilitonen durch präzise Charakterisierungen Profil zu verleihen. Und wenn dann der Täter entlarvt wird, schlägt der Film aus dieser Enthüllung wenig Kapital, liefert der Figur nur mehr Leinwandzeit, ohne zugleich die Suspense-Schraube anzuziehen.

"Anatomie" hat andererseits die "Hollywood-Lektion" begriffen, wenn es darum geht, dass die gesellschaftskritische Dimension aus der persönlichen Betroffenheit erwächst: Paula wird mit einer schockierenden Wahrheit über ihre eigene Familie konfrontiert. Konsequenzen hat das allerdings nicht, denn der natürliche Lauf der Dinge kommt dem zuvor. Und auch eine zweite Verbindungslinie kappt der Film eher als sie zu akzentuieren: die zwischen den alt(geworden)en Antihippokraten, deren Versammlung eher an ein Treffen ehemaliger Burschenschaftler erinnert, und dem jungen Psychopathen, der sich für den wahren Antihippokraten hält, im Namen der wissenschaftlichen Forschung mordet und den Alten ihre "bürgerliche Beschränkung" vorwirft. Immerhin gibt es einige große Monologe, und hübsch ist auch eine lakonische Coda, in der zwei Kommilitonen ihre Sympathien für die "ungehinderte Forschung" im Sinne der "Antihippokraten" bekunden.

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