Wolfsburg

Deutschland 2002/2003 Spielfilm

Die innere Unsicherheit

Nicht nur für Automobilisten: Christian Petzolds "Wolfsburg" plädiert für ein Gefühlskino der Diskretion



Daniel Kothenschulte, Frankfurter Rundschau, 26.09.2003

Nach einer alten Anekdote ans dem Zeitungsgeschäft zog sich einmal ein Setzer den Zorn seines Herausgebers zu, weil er zum Kriegsausbruch die größten Letter aus dem Schrank geholt hatte. Noch nie waren die gewaltigen Holzbuchstaben mit der Druckerschwärze in Kontakt gekommen. "Wieso haben Sie das gemacht?", fuhr ihn der Zeitungsfürst an. "Die wollte ich doch für die Wiederkehr des Herren aufheben!"

Jeder Pianist ist vorsichtig mit dem fortissimo, und das forte-fortissimo ist eigentlich tabu; wer weiß denn schon, wozu man es nicht noch eines Tages wird brauchen können. Das Kino kennt diese Scheu nicht, was uns immerhin einmal den "Panzerkreuzer Potemkin" beschert hat und "Vom Winde verweht". Wir wollen von ihm bis zum äußersten gereizt werden, wenn es sein muss, als wären wir selbst das Klavier, gerne auch für die falsche Sache. Nur: Meistens muss es nicht sein.

In den letzten Jahren jedoch ist, angeregt durch das dänische Dogma, ein Missverständnis zur Norm geworden: dass sich Gefühlswirkungen nämlich durch bloße Kameranähe zum Geschehen ad ultimo steigern ließen. Die Handkamera ist das Lieblingsinstrument dieser Gefühlsjäger, aber Schmetterlinge lassen sich schlecht mit der Fliegenklatsche fangen.

Christian Petzold gehört zur kleinen, standhaften Gegenbewegung, was seinen neuen Film "Wolfsburg" bei der letzten, von emotionalen Schnellschüssen geprägten Berlinale gleich ins Hintertreffen brachte. Dabei hatte sich schon sein Überraschungserfolg "Die innere Sicherheit" als Fels in der Brandung des aufkommenden Digitalkinos erwiesen. Eines Kinos, das doch eigentlich das analoge Kino ist, weil es die Dinge des Lebens eins zu eins abbilden möchte.

Auch die gelernte Schriftsetzerin im Mittelpunkt von "Wolfsburg" würde wohl kaum die großen Buchstaben wählen; längst hat sich die introvertierte junge Frau mit einem stupiden Lagerjob zufrieden gegeben, der ihr – abgesehen von den Avancen ihres Vorgesetzten – weitgehend ihre Ruhe bewahrt. Sie begegnet uns im Augenblick der größten emotionalen Katastrophe, die denkbar ist. Ihr Kind ist von einem Fahrerflüchtigen schwer verletzt worden und stirbt im Krankenhaus.


Die Szene, die Petzold findet, um uns diese Katastrophe mitzuteilen, ist ein Meisterstück künstlerischer Diskretion. Als sie ihre Tochter besuchen möchte, erzählt uns schon das fehlende Bett, was passiert sein muss. Während die Krankenschwester murmelt, man habe sie nicht erreichen können, entschuldigt sich die Mutter mit ihrem nicht aufgeladenen Handy. Noch bevor ihr jedoch die schreckliche Wahrheit bewusst geworden ist, hat Petzold bereits umgeschnitten. Die Darstellung des Todes in dieser Szene, ausgedrückt allein durch das fehlende Bett, findet eine überzeugende Lösung für eine der schwierigsten Sujets der gesamten Kunstgeschichte. Joseph Beuys hat in seiner berühmten Münchner Installation "Zeige deine Wunde"" zwei Leichenbahren gewählt, um eine ähnliche Wirkung zu erzielen – und Petzold lässt diese buchstäblich auch noch weg.

Die eigentliche Hauptfigur indes ist der Unfallfahrer. Wie wichtig das Motiv des Autos in diesem Film ist, das sowohl Tötungsinstrument ist als auch das Allheilmittel in Form luftigen Vergessens auf der Landstraße, lässt schon der Titel erahnen: Wolfsburg, die Autostadt, liegt zwar um die Ecke, ist im Film jedoch nicht präsent. Dafür führt der Täter ein Autohaus, das ihn wie ein gläsernes Schneckenhaus keine Flucht vor den eigenen Schuldgefühlen erlaubt. Während sich die trauernde Mutter auf die Suche nach dem Unfallwagen macht, sucht er schon nach ihr macht; er erwirbt ihre Zuneigung und finanziert, ihr heimlich eine neue Beschäftigung in ihrem eigentlichen, fast ausgestorbenen Schriftsetzerberuf. Natürlich wird es am Ende auch das Auto sein, das ihn verrät.

Wie in "Die innere Sicherheit" belässt es Petzold im Dialog bei den nötigsten Mitteilungen – und die sind, wie das im Leben nun einmal so ist, häufig auch noch nebensächlich. Der Rückzug auf die diskreteren filmischen Darstellungsmodi ruhiger Totalen und die Sicherheiten eines gut komponierten Bildes (Kamera: Hans Fromm) ist Bresson oder Mizogushi näher als dem Meisten in der Gegenwart. Und lässt den in Wolfsburg ohnehin exotischen Namen "Ford" plötzlich vor allem nach amerikanischem Kino klingen. Man muss allerdings auch Darsteller finden, die zu wirkungsmächtiger Zurückhaltung fähig sind; Benno Fürmann und Nina Hoss werden immer stolz auf diesen Film bleiben.


Wie die Dialoge, verweigern auch die Bilder ihren sonstigen Mitteilungsdrang, ein typisches Merkmal der Schule Harun Farockis, die für das künstlerisch relevante deutsche Kino so wichtig geworden ist wie die Becher-Schule in der Fotografie. Die Landschaftsfotografie – es ist eher eine Landstraßenfotografie – schenkt den Menschen eine künstliche Freiheit. Wie die Touristen-Terroristen in "Die innere Sicherheit" leben auch die Figuren in "Wolfsburg" in einer Zwischenwelt, so reell sie auch anmutet. Doch ihre Passage, dies unterscheidet Petzolds Filme von anderen Straßenfilmen, verspricht nur sehr begrenzte Wege der Erlösung. Eine ziellose Autofahrt ist das einzige Glück, das sein Liebespaar erlebt. Hatte sich nicht einst Bölls Katharina Blum durch ihre unmotivierten Autokilometer bei der Polizei verdächtig gemacht? Ein bescheidener Luxus. Ein schönes Auto ist tatsächlich der einzige Schauwert, das einzige wirkungssichere Instrument des Effektkinos, die einzige Indiskretion, die dieser wunderbare Film sich erlaubt.

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