Die Anruferin

Deutschland 2006/2007 Spielfilm

Die Anruferin


Es gibt viele Gründe, Zuflucht in der Regression zu suchen: Man kann sich so das Unbehagen an der Welt vom Leibe halten, die Verantwortung an andere delegieren oder Kindheitstraumata verdrängen. Die zwischen Infantilität und kühler Berechnung changierende Heldin in Felix Randaus zweitem Langfilm möchte schlicht einer erbärmlichen Existenz entkommen. Wenn sie nicht tagsüber in einem Waschsalon arbeitet, pflegt Irm Krischka ihre todkranke Mutter, die ans Bett gefesselt ihrer früh verstorbenen jüngeren Tochter nachtrauert, sich mit Schnaps betäubt und sich an einem Altar aus alten Fotos an die Vergangenheit klammert. Um die Zurückstellung bei ihrer Mutter zu kompensieren, dringt Irm mit einer unheimlichen Kinderstimme, die am Telefon Mitleid erzwingt, in das Leben fremder Menschen ein. Mal gibt sie sich als misshandeltes, mal als krebskrankes Kind aus, das sich im Krankenhaus vor den vielen Spritzen fürchtet. Beim nächsten Anruf schlüpft sie dann in die Identität einer vermeintlichen Mutter, die vom plötzlichen Tod ihrer Tochter berichtet und auf das anstehende Begräbnis verweist. Auf dem Friedhof genießt die 30-Jährige dann unbemerkt ihren Triumph über den Gefühlshaushalt anderer. Die verdutzten Gesichter der Trauernden, die vergeblich nach einem Kindergrab suchen, konfrontiert die Kamera mit der Zufriedenheit einer Frau, die sich selbst nur spüren kann, wenn sie anderen Leid zufügt.

Was geschah wirklich mit der Anruferin, könnte man sogleich fragen, so sehr erinnert die Hassliebe zwischen der in ihrer unglücklichen Kindheit gefangenen Tochter und der mit Blicken und hilflosen Gesten manipulierenden Mutter an die psychotische Konstellation zwischen Bette Davis und Joan Crawford in "Was geschah wirklich mit Baby Jane" (fd 11 994). Liebe und Fürsorge können in diesem Spannungsfeld so schnell in Aggression umschlagen, wie Irms Gesichtsausdruck von kindlichem Charme in gnadenlosen Egoismus entgleist, wenn ihre Gesprächspartner sie zu langweilen beginnen. Dann traut man ihr für einen kurzen Moment alles zu, bis die Unschuld wieder in die verhärtet abgeklärten Augen der hypnotisch agierenden Valerie Koch zurückkehrt, die in ihrer Rolle mit Haut und Haaren aufgeht. Ein schwarzer Psychothriller hätte der überaus spannend inszenierte Schauspielerfilm werden können, wäre da nicht Esther Schweins – ebenfalls ein unerwarteter Glücksfall für den Film – als hintergangene Telefonbekanntschaft, die sich dem schizophrenen Seelenexorzismus ihrer Kontrahentin mit Realitätssinn, psychologischem Gespür und Mut zur Wahrheit entgegengestellt. Obwohl sie gerade ihren Mann durch einen Unfall verloren hatte, geht sie auf Irms Leidensgeschichten mitfühlend und mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit ein, eine Reaktion, der die notorische Lügnerin nicht gewachsen ist. Aus Angst, das gewohnte Spiel unterbrechen zu müssen, geht Irm zunächst auf Distanz, kommt aber nicht umhin, die hartnäckige Gegenwart der so ungewollten wie realen Freundin zu akzeptieren. Esther Schweins Figur der gebildeten und schönen Mittelstandsfrau gleicht einem erlösenden Engel, der für all das steht, was die in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsene Irm gerne sein möchte.

Nicht ohne Grund zieht sich Melanies alter Song "Beautiful People" wie ein roter Faden durch diese subtile Psychostudie, die ihre Struktur den bedrohlich abrupt wechselnden Stimmungen und Rollenspielen der Hauptfigur verdankt. Die hoffnungsvolle Aufbruchsstimmung des Liedes konterkariert die nüchterne Kamera von Jutta Pohlmann, die irgendwo zwischen Andreas Dresen und der Berliner Schule der Einsamkeit ihren ans Herz gehenden Frauenfiguren mit beklemmend lebensnahen Bildern nachstellt. Bereits in seinem Debüt "Northern Star" (fd 36 823) stellte Felix Randau, Jahrgang 1974, eine vereinsamte junge Frau ins Zentrum des Geschehens. Für "Die Anruferin" verfasste diesmal Vera Kissel nach ihrem Theaterstück das kluge und rundum stimmige Drehbuch. Das Ergebnis ist kein Rührstück à la "Aschenputtel trifft Prinzessin", denn dafür ist das melodramatische Potenzial dieser im deutschen Kino ungewöhnlichen Frauenfreundschaft zu gering. Die Protagonistinnen betreiben weder eine peinliche Nabelschau noch ein spektakuläres Machtspiel mit homoerotischem Subtext. Bei aller neurotischen Verrenkung stellen sie am Ende ihre Selbst- und Wunschbilder auf den Prüfstand. Dass diese Selbstfindung ganz ohne Kitsch auskommt, ist nur eine von vielen Überraschungen dieses mehr als gelungenen Nachwuchsfilms.

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