England!

Deutschland 1999/2000 Spielfilm

Hinter Tschernobyl liegt England

Es geht ja doch: "England!", ein kosmopolitisches Meisterwerk des deutschen Kinos


Daniela Sannwald, Frankfurter Rundschau, 29.08.2001

Dass Reisen immer mit Träumen zu tun hatte und Träumen manchmal mit Reisen, jedenfalls vor dem Einsetzen des Massentourismus, hat Joseph Conrad, Seemann und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, für seine Romanfigur Lord Jim als Lebensprinzip formuliert: "Dem Traum folgen und nochmals dem Traum folgen und so – bis zum Ende...". Valeri, der Held von "England!", ist gebürtiger Ukrainer, und er ist fünfzehn Jahre lang, fast die Hälfte seines Lebens genau wie Lord Jim seinem Traum gefolgt: von Tschernobyl über Kiew und Polen, über die Oder bis nach Berlin und noch ein Stückchen weiter. England heißt der Traum, und am Schluss des Films ist Valeri fast da.

Road Movie oder romantische Komödie, Buddyfilm, Sozialsatire oder Schelmenroman – "England!" hat von allem etwas und noch mehr; und wenn dieser Film sich schon jeglicher Genrezuordnung entzieht, so verweigert er noch weit energischer das Etikett "deutsch". Auch wenn Regisseur Achim von Borries Münchner ist und in Berlin studiert hat, auch wenn Berlin der Hauptschauplatz des Films ist, der ausschließlich mit deutschen Fördergeldern produziert wurde.

In der Gegend um Tschernobyl, wo bis zum Horizont nichts als wogende Kornfelder im Sommersonnenlicht zu sehen sind, beginnt "England!", kurz nach dem Reaktorunfall im April 1986. Damals waren Valeri und sein Freund Viktor als Wehrpflichtige bei Aufräumarbeiten eingesetzt; und damals versuchten sie zum ersten Mal, mit einem Lastwagen aus dem militärischen Sperrgebiet auszubrechen, um nach England zu fahren. Oder irgendwohin. Jedenfalls zusammen.



Jetzt, fast 15 Jahre später, versucht Valeri es noch einmal: Er folgt Viktor, den es nach Berlin verschlagen hat, um endlich den gemeinsamen Traum zu realisieren. In Berlin aber findet Valeri statt Viktor den wortkargen Maler Pavel, mit dem er für eine Weile wohnt und arbeitet. Er trifft die geheimnisvolle Maria und deren Mann Shurik, Besitzer eines Hotels, in dem es 16 Kellner, aber keine Gäste gibt. Er arbeitet als Prospektverteiler, Agent und Putzmann. Er kauft sogar zwei Bustickets nach London. Aber Viktor ist tot. Gestorben an Tschernobyl. Und Valeri blutet aus der Nase.

Achim von Borries, der sein eigener Drehbuchautor ist, hat nicht nur etwas zu erzählen, was außerordentlich, merkwürdig und wunderbar ist; er hat dafür auch Bilder gefunden und Dialoge entwickelt, die es noch nicht gab. Berlin, wie Valeri es erlebt, zum Beispiel, ist dunkel und kalt, abgesehen von den Telecafés und Imbissbuden, wo die Einsamen aller Länder sich treffen und sich um ein bisschen Wärme und Licht scharen.

Berlin ist auch eine Stadt ohne Deutsche, in der Einwanderer von überall her mehr oder weniger erfolgreich ihren Geschäften nachgehen und miteinander Deutsch sprechen. Aber "England!" ist kein Film des sozialen Elends oder Migrantenkitsch; seine Protagonisten sind selbstironisch und gewitzt im Umgang mit der Infrastruktur der Großstadt, die Schlupflöcher noch für die absurdesten Existenzformen bietet. Auch das zeigt Achim von Borries: ein Berlin der Schattenwirtschaft und fröhlichen Koexistenz aller möglichen Arten von selbständigem Unternehmertum.

Das zweite große Thema von "England!" ist die Freundschaft zwischen zwei Männern, die wenig miteinander reden und dafür viel miteinander unternehmen. Klassisch, denkt man, aber nein, auch hier ist es dem Regisseur gelungen, zwischen den Kategorien zu bleiben: Valeri und Pavel verbindet weder die heroisch-verzichtende Beziehung von Westernhelden – obwohl einem "England!" tatsächlich manchmal wie ein Western erscheinen kann – noch die markige Verlegenheit und latente Homosexualität der Figuren eines Wim Wenders: Ihre Freundschaft ist realistischer und erstaunlicherweise zugleich romantischer – und dies alles gelingt mit Achim von Borries" lakonischen Ellipsen.

Aber wenn Valeri nachts frierend neben seinem Rucksack auf einem Brunnenrand sitzt und die über einen öffentlichen Großmonitor flimmernden Bilder betrachtet, weil er nicht weiß, wo er hin soll; oder wenn er dem misstrauisch in den Rückspiegel schauenden Taxifahrer sein Geld zeigt, um ihn zu beruhigen, dann wird Berlin als unwirtlichster Ort der Welt noch weit über die Grenzen der Leinwand hinaus spürbar.

Es sind solche Momente von sinnlicher Intensität, die diesen ohnehin dichten Film zu einem Abenteuer machen, einer Reise, einem Traum, dem man überall hin folgen möchte.

© Daniela Sannwald

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