Der Berg des Schicksals

Deutschland 1923/1924 Spielfilm

Berge, Wolken, Menschen



Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 9.4.1925


Der ab Gründonnerstag in der Neuen Lichtbühne zur Aufführung gelangende Film: "Der Berg des Schicksals" ist ein Naturfilm besonderer Art. Er spielt in den Dolomiten, sein Thema ist die Besteigung einer Felsnadel, die Guglia del Diavolo sich nennt. Zwei Generationen mühen sich um ihre Bezwingung. Der Vater, von dem bekannten Skiläufer und Sportsmann Hannes Schneider verkörpert, stürzt in einer Gewitternacht an einem Überhang ab, ohne das Ziel erreicht zu haben, dieweil sein Bub auf dem heimischen Kamin bereits klettern lernt. Der Junge, von der Mutter (Erna Morena) und der Großmutter (Frieda Richard) betreut, wächst zur sehnigen Gestalt heran, die der Tiroler Kletterer Louis Trenker repräsentiert, und erweist sich als der würdige Nachfolger seines Vaters. Seine Freundin (Herta Stern von Walther), eine auch nicht unbegabte Touristin, versucht sich auf eigene Faust an der Teufelsnadel, die er zu meiden sich verschworen hat. Da sie aber stecken bleibt und Notsignale gibt, nimmt er, gleichfalls in einer Gewitternacht, den bisher jungfräulich gebliebenen Gipfel, rettet das widerspenstige Mädchen und glänzt als zwiefacher Eroberer. – Wesentlicher als die Handlung mit ihrem segensreichen Ausgang sind die herrlichen Naturaufnahmen, die unter den schwierigsten Umständen und bei monatelangem geduldigen Ausharren gewonnen worden sind. Die Felsgebilde der Dolomiten – Cimone della Palla, Latemar, Rosengarten und wie sie alle heißen – ragen bei jeder Beleuchtung himmelan, sie spiegeln sich in den Seen wider, und Wolkenballungen umdrängen sie: Haufenwolken, riesige weiße Massivs, die zerflattern, Wolkenmeere, die aufwallen und verebben, streifige Züge und Herdenscharen. Schneller als in der Wirklichkeit eilen sie herbei und zerstreuen sich, von dem Zeitraffer um ihre Dauer betrogen. Sie verbergen die Gipfel, kreisen sie ein und ziehen sich für Augenblicke von der Belagerung zurück: ein kaleidoskopartiges Schauspiel, immer das gleiche, und immer wieder neu. Selten noch hat man im Film solche himmlischen Szenerien gesehen; ihr seltsamer Reiz beruht vor allem darin, daß Vorgänge, die in der Natur viele Stunden zu ihrer Entwicklung bedürfen, hier in wenigen Minuten dargeboten werden. Die Wolkenereignisse konzentrieren sich, und die Zeitverzerrung erzeugt einen optischen Rausch, der entzückt. Hinzu kommt der Anblick geübter Kletterer im Fels. Der Operateur Arnold Fanck, der sie gekurbelt hat, verdient jede Bewunderung, denn auch er hat "immer an der Wand lang" nachfolgen müssen, um die Bilder einzufangen. Kamin- und Wandkletterer bei Sonne und Neuschnee werden in Vollendung vorgeführt. Die Geschmeidigkeit der Bergsteiger befriedigt ästhetisch wie jede ausgeprägte körperliche Entfaltung; aber mehr noch: die Lockungen des Felsen meint zu spüren, wer selber je das Klettern getrieben hat Mögen den Film viele sehen; er zeigt die passionierte Verbundenheit zwischen Mensch und Natur von einer eigenartigen Seite.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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