Berlinger

BR Deutschland 1975 Spielfilm

Neues Terrain gewonnen

Staatsanwaltschaft beschleunigt Frankfurter Premiere von "Berlinger"


Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 29.11.1975

Während Volker Schlöndorff / Margarete von Trottas Böll-Adaption "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" mittlerweile, sechs Wochen nach dem Start, mit vierzig Kopien fast überall in der Bundesrepublik angelaufen ist und der amerikanische CIC-Verleih mit einer Besucherzahl von bis zu zwei Millionen in diesem Land rechnet; während Bernhard Sinkels "Lina Braake" in dreißig Kopien bis Ende Februar ausgebucht ist und der junge "Filmverlag der Autoren" eine Million Besucher in der BRD erwartet: während also junge westdeutsche Filme überraschende Erfolge an den Kinokassen erzielen (und damit die Chance für andere deutsche Filme, endlich zum Publikum zu finden, entscheidend vergrößern), startete der letzte noch in bundesdeutscher Hand verbliebene Großverleih, Constantin, das bisher teuerste Projekt des jungen Films in der Bundesrepublik: 1,7 Millionen Mark hat "Berlinger" gekostet, den der ehemalige Filmkritiker Alf Brustellin und Bernhard Sinkel, ebenfalls ehemaliger Journalist, nach zweijähriger Vorbereitungszeit gedreht haben, in Co-Regie, nach einem eigenen Drehbuch, das die Geschichte zweier Männer erzählt, die sich gegenseitig vernichten. (Der Zugriff der Frankfurter Staatsanwaltschaft auf den französischen Edelporno "Die Geschichte der O" verschafft nun dem deutschen Film früher als erwartet seine Erstaufführung in Frankfurt.)

Berlinger ist ein Luftikus im wahrsten Sinne des Wortes. Denn immer, wenn der genialische Einzelgänger und Patentinhaber auf unüberwindbare Widerstände in der Wirklichkeit stößt, erhebt er sich mit seinem kleinen Privatflugzeug in die Lüfte und fliegt davon. Berlinger (Martin Benrath) ist der eine Typus eines "deutschen Menschen", unpolitisch, asozial, sprunghaft, ein konservativer Anarchist, der wissenschaftliche Talente, industrielle Herkunft und Abenteuerlust zur starken Kraft ungebundenen Vazierens verbindet. Sein Widerpart Roeder dagegen, der Kindheits- und Jugend-Freund, der mit ihm aufgewachsen ist, aber aus proletarischem Milieu stammte, hat die frühe Verpflichtung, die sein Leben bestimmte, in der Folge verinnerlicht. Er stellte sich immer "in den Dienst" einer Sache – ob es die nazistische "Volksgemeinschaft" war oder in der Nachkriegszeit der "Wiederaufbau" und heute die profitable "Erschließung von städtischen Naherholungszielen". Er ist der "Konservative", der sich dem jeweiligen System anpaßt und alle seine motorische Energie und Tatkraft zielbewußt "einsetzt".

Diese beiden Männer treffen nun wieder aufeinander, nachdem sie sich jahrzehntelang nicht mehr gesehen hatten. Berlinger war nämlich nach dem Selbstmord seiner Frau, für den er Roeder schuldig macht, 1938 aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen und ist erst 1968 auf den ererbten Grund und Boden zurückgekehrt, wo er zusammen mit ein paar Angestellten seinen Hobbies und Ideen nachgeht, deren spektakulärste der Bau von Luftschiffen ist. Roeder hat inzwischen das umliegende Land aufgekauft und möchte auch Berlingers Gelände erwerben, um so mehr, als er seinen Geldgebern, die hier ein "modernes" Erholungszentrum, sprich eine vollklimatisierte Stein- und Betonwüste, errichten wollen, versichert hat. Berlinger habe verkauft oder werde es tun.

Der Kampf, den diese beiden nun gegeneinander (und Roeder gegen die Zeit) ausfechten, gibt dem Film Gelegenheit, ihre Charaktere, deren Antriebe, aber auch die aktuelle Situation im Deutschland der Gegenwart plastisch hervortreten zu lassen. Als Berlingers Scheitern abzusehen und nachdem sein Luftschiff während eines Gewitters zerstört worden ist, fliegt er wieder, fahnenflüchtig, davon, hält sich aber dennoch so lange in der Luft, bis Roeder die Luft ausgegangen ist, d. h. fällige Wechsel geplatzt sind, weil er Berlinger nicht rechtzeitig zur Unterzeichnung des Verkaufsvertrages hatte bringen können. So stürzen sie denn beide ab: Berlinger mit seiner Maschine in einen Baum, Roeder aus den Höhen seiner finanziellen Transaktionen in den Bankrott.

Brustellin und Sinkel erzählen diesen Stoff, dessen Gerüst hier nur angedeutet ist, nicht chronologisch. Wie der Film zwei Personen – oder besser zwei Seiten eines konservativen Typus – vorstellt, so schachtelt er immer wieder Vergangenheit (Kindheit und Nazizeit) in die wenigen Tage, während deren die beiden Saurier ihren "Endkampf" vollführen. Nicht immer glücklich, nicht immer schlüssig. Daß die beiden Regisseure auch noch den breit gewordenen Stoff zusammenkürzen mußten, führt gelegentlich zu Lücken, abgebrochenen Motiven, von denen sie zu viele, vielleicht allzu viele, hier eingebracht hatten. Das thesenhafte Moment, das der Geschichte innewohnt (und an Erzählungen Kluges in dessen vorletztem Buch "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" erinnert), wird aber dann wieder sehr schön aufgelöst in eine Vielzahl von Episoden und Geschehnissen, in erzählerisches Fleisch und Sinnlichkeiten, die den zweistündigen Film prall machen wie den Ballon eines Luftschiffs, überzogen von dem Gegitter beziehungsreicher Momentaufnahmen aus dem Alltag.

Ein Film der Fülle, wenn nicht sogar aber auch der Fülligkeit, spektakulär und von einem ganz erstaunlichen humanen Gestus: Erzählkino, wie die Jungen es sich erträumen – aber nicht als Flucht in den schalen, aufgeputschten Chic des "letzten Schreis", mit dem Robert van Ackeren, der Berliner Regisseur von "Blondie"s Number One" und "Harlis", sich in eine Pseudodécadence mogelte, also kein Evasionskino, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden stehend, bei aller offenkundigen Sympathie für und aller erkennbaren Kritik an dem Luftigen, Verspinnerten, Utopischen und Abenteuerlichen, das in einer so radikal ihren Wünschen lebenden Figur wie dem Berlinger steckt. Ein romantisches Sujet, auf erdigem Grund. Der junge westdeutsche Film hat sich mit "Berlinger" ein neues Terrain erobert. Das Publikum, das den erstaunlichen Reisen unserer jungen Regisseure in neue Kino-Erfahrungen so erfreulich zahlreich gefolgt ist, und zwar völlig zu Recht, wird eingeladen, das Terrain "Berlinger" in Augenschein zu nehmen. Es wird nicht enttäuscht werden.

Rights statement