Das schreckliche Mädchen

BR Deutschland 1989 Spielfilm

Das schreckliche Mädchen




Karsten Visarius, epd Film, Nr. 4, April 1990

Trotz der Auszeichnung mit dem "Silbernen Bären" auf der diesjährigen Berlinale schon nach kürzester Frist aus dem Programm gekippt: so ist es Michael Verhoeven mit seinem Film "Das schreckliche Mädchen" ergangen. Wieder einmal bestätigen sich die Befürchtungen derer, die die Chancen für ein engagiertes und ästhetisch differenziertes Kino mehr und mehr schwinden sehen. Ist es die Trägheit des Publikums, die sich allen Abweichungen von den gewohnten narrativen Konzepten verweigert, die Abneigung gegen Verhoevens Thematik oder die Blockadepolitik der amerikanischen Verleihfirmen, die ihre schwächeren Konkurrenten an den Rand drängen? Oder ist es der Mangel an Geduld und Ausdauer seitens der Kinobetreiber, die einem anfangs nur zögernden Zuspruch findenden Film die nötige Anlaufs- und Entwicklungszeit nicht gönnen wollen oder können? Es sieht ganz danach aus, als zerstörte der vereinte Konformismus von Konsumenten und Industrie die Vielfalt der Produktions- und Wahrnehmungsmöglichkeiten. Das Klagelied ist alt, bleibt aber wahr.

Dabei muss keiner um sein Amüsement bangen, das er im Kino sucht. Der Vorspann des Films erklärt die Spielregel. Die folgende Geschichte, heißt es da, beruht auf einer wahren Begebenheit; Personen und Handlung sind frei erfunden. Dieses Spiel kennen wir. Und doch ist der vorausgeschickte Hinweis keineswegs überflüssig. Denn er deckt sich mit dem Prinzip, nach dem "Das schreckliche Mädchen" tatsächlich funktioniert. Verhoeven erzählt nämlich nichts, was erst durch die Tätigkeit der Phantasie, durch die Teilnahme an den Wünschen und Absichten, der "inneren Welt" seiner Figuren entstünde. Wir begreifen das Geschehen vielmehr deshalb, weil wir immer schon wissen, "was kommt".

Diese Hypothek hat Verhoeven als Problem erkannt – und er hat daraus die Form, die Erzählweise seines Films entwickelt. Er gleicht einem Zerrspiegel, in dem unser Wissen ständig vertraute Bilder der Wirklichkeit entdeckt. So ist "Das schreckliche Mädchen" weder für eifrige Interpreten auf der Suche nach versteckten Botschaften gedacht noch für die Kinosucht nach dem Rausch der Illusion geeignet. Verhoeven setzt statt dessen auf das Vergnügen, das aus dem Ineinander von Verformung und Wiedererkennen entsteht, aus der Spannung zwischen dem Witz einer Sittenkomödie und dem Grimm einer politischen Satire, angesiedelt irgendwo zwischen Valentin und Brecht.

Die Geschichte glaubt man schon dutzendmal gehört zu haben. In Kurzform kann man sie als Inschrift auf einer Kirchenwand lesen. "Wo wart ihr zwischen "39 und "45, und wo seid ihr jetzt?": so steht da geschrieben. Die Musterschülerin Sonja, Zögling einer Klosterschule, hat sich die Frage zu Herzen genommen. Sie ist das "schreckliche Mädchen": schrecklich in ihrer Naivität, ihrem Eifer, ihrer Beharrlichkeit, mit der sie das stillschweigende Einverständnis ihrer Heimatstadt stört. Pfilzingen heißt dieser Musterort der deutschen Nachkriegsgeschichte, das bischöfliche Passau ist gemeint; und so gesellt sich zur schuldbewussten deutschen Vergangenheitsverdrängung noch die glaubensgestärkte Verstocktheit eines bayrisch-katholischen Milieus. Pfilzingen, das ist der Modellfall der heiligen Allianz von Verbotenem und Verschwiegenem.

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