Der Felsen

Deutschland 2001/2002 Spielfilm

Der Felsen


Hans-Jörg Marsilius, film-dienst, Nr. 15, 16.07.2002

Der fast schon zu komplex angelegte Beginn des Films verspricht einiges – großes, emotionales Kino allemal. Und er gibt bereits den Grundton des Films vor, indem er einen senegalesischen Straßenverkäufer von den alten Erzähltraditionen seines Landes berichten lässt, in denen sich das Zufällige und das mythisch-symbolisch Überhöhte durchdringen. Aus dem Off erklingt bald darauf eine weibliche Stimme, die wie eine weise, unbeteiligte Gottheit vom Olymp den Zuschauer einstimmt auf das, was kommen wird, und das sich auch ganz anders hätte entwickeln können. Katrin, eine Frau in den Mittdreißigern, von Beruf technische Zeichnerin, fällt aus allen Wolken, als Jürgen, ihr Chef im Architekturbüro und ihr Geliebter, mitten im gemeinsamen Urlaub auf Korsika erzählt, dass seine Frau im vierten Monat schwanger sei. Er wird Katrin verlassen und zu seiner Frau zurückkehren. Die letzten Tage und Stunden der Gemeinsamkeit stehen von da an unter einem so unerhörten Druck, dass sie eher zur Qual werden. Die Momente vor der Trennung, so viel sei bereits verraten, gehören zu den besten Sequenzen, mit denen der Film aufwarten kann. Die unscharfen digitalen Bilder machen die Vergänglichkeit sinnlich fassbar, gerinnen zu einem unaufhaltsamen Dahinströmen bis zur unvermeidlichen Trennung.

Als Jürgen schließlich seine Taschen packt, um – vorgeblich – im Auto zurückzureisen, bleibt Katrin allein im Hotel zurück. Nun beginnt eine Odyssee, die einmal mehr eine zunächst sehr selbstsichere, nun verlassene Frau zur haltlosen Sucherin machen, die den Moment emotionaler Leere in spontaner, willenloser Hingabe ans männliche Geschlecht zu kompensieren versucht. Kurz vor der erotischen Eskapade mit zwei Gendarmen lernt Katrin den minderjährigen Malte kennen, der sie mit seiner naiv-bedingungslosen Zuneigung in Bann zieht. Der Junge gehört zu einer Gruppe straffälliger deutscher Jugendlicher, die in einem Camp auf Korsika resozialisiert werden sollen. Dazu gehört auch Maltes jüngerer Bruder Kai, der sich sehnlichst eine neue Familie wünscht. Als Katrin erfährt, was es mit Malte genau auf sich hat (er hat seinen Vater umgebracht), haben sich die Beiden schon so sehr ineinander verstrickt, dass der Weg für eine Kino-gemäße „amour fou“ geebnet ist, die alle Rationalität ignoriert. Dieser „amour fou“ allerdings, die zu verbrennen droht, was sich liebt, möchte man als Zuschauer nur bedingt folgen; denn mit zunehmendem Verlauf wirken die Handlungen der Figuren und die Verwicklungen so konstruiert, dass sie der emotionalen Teilnahme den Boden unter den Füßen entziehen. Wie Ingrid Bergman in Rossellinis „Stromboli“ (fd 1 043) irrt Katrin schließlich auf der Flucht mit den beiden Jungen durch die Bergwelt Korsikas, wird mit Natur und Verzweiflung konfrontiert, um so über den eigenen Schmerz (und das verletzte Ego) hinwegzukommen. Auch der Gedanke an Paul Bowles/Bernardo Bertoluccis „Himmel über der Wüste“ (fd 28 604) liegt nicht fern. Am Ende steht die Befreiung von Eitelkeit und Egozentrik, das Erwachen eines Gefühls von Verantwortung.

War Dominik Graf in den meisten seiner früheren Filme eher durch seine zupackende, geradlinige Inszenierung aufgefallen, die sich ohne Berührungsängste auch dem Genrekino annäherte, so gleitet dieser Film im Fahrwasser seiner Protagonisten in schwer nachzuvollziehende und befremdliche Bahnen. Trotz des wirtschaftlich begründeten Verzichts auf das Drehen auf 35mm-Film und das Ausweichen auf das zurzeit so „hippe“ Mini-DV-Equipment, wirkt der Film sehr schwer und aufgeladen. Unbestritten gibt es in „Der Felsen“ wunderbare Momente – neben dem Beginn etwa die Gewitterszene oder wenn Malte Katrin in ein gemietetes Zimmer in den Bergen locken will. Doch wo andere DV-Produktionen Authentizität und Spontaneität ausstrahlen, schieben sich in „Der Felsen“ oft Bedeutung und technische Virtuosität zu stark in den Vordergrund. Graf und sein Kameramann Benedict Neuenfels erliegen beim Einsatz von Standbildern, Nachzieheffekten, dem Spiel mit der Unschärfe und dem „Rauschen“ des digitalen Bildes ganz offensichtlich den Verlockungen der DV-Technik und konterkarieren deren spartanischen Charakter durch zuviel Kunstwillen und unnötig forcierten Symbolismus. Dazu kommt noch eine ausgesucht „schöne“, aber eben auch ungeheuer aufgeladene Filmmusik (die Graf selbst zu der Aussage verleitete, er habe ein „Urlaubsvideo mit symphonischer Musik“ gedreht). Mit solch irrsinnig großem Aufwand, so hat es den Eindruck, versucht der Film das einzulösen, was die senegalesische Erzähltradition fordert: aus dem Verknüpfen beliebiger Gegenstände – etwa einer Brieftasche, eines Rings, eines Bikinioberteils, einer Postkarte – eine spannende Geschichte zu gestalten. Radikal ist das nicht, eher schon widersprüchlich und unentschieden. Die geraden Linien, die Katrin auf ein Blatt Papier zeichnet, werden im dramatischen Ablauf des Films aber zu konfusen Spiralen, die kein anderes Ende möglich machen, als eben das größtmöglich tragische. Die Berechnungskünste der technischen Zeichnerin sind an ihr Ende gekommen, „Homo Faber“ (fd 28 804) lässt grüßen. Karoline Eichhorn, die für ihre Darstellung mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet wurde, spielt die Hauptfigur mit einer bewundernswerten, rückhaltslosen Energieleistung, die in den Schwächen der Geschichte manchmal zu verpuffen droht. Ähnliches gilt für Antonio Wanneck, den Darsteller des Malte, der auf der diesjährigen „Berlinale“ zu einem der 17 europäischen „Shooting Stars“ gekürt wurde.

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