Der Fußgänger

BR Deutschland Schweiz 1972/1973 Spielfilm

Der Fußgänger


Erika Haala, film-dienst, Nr. 20, 02.10.1973

Schell ist ein literarisch orientierter Filmmacher; so sehr auch seine Kameraarbeit – vielleicht ein wenig zu artifiziell – an der Ästhetik des schönen Bildes orientiert ist, geht er doch von der geistigen Verarbeitung eines dichterischen Stoffes aus. So ist sein "Fußgänger" vor allem von einigen zitatreifen Dialogstellen her zu verstehen und zu interpretieren. Da heißt es zu Beginn in einem Gespräch zwischen dem Industriellen Giese und seinem kleinen Enkel: "Geschichte ist, was wichtig ist, was vor 300 Jahren und was gestern war." Die Frage des Kindes rückt dann zurecht: auch das "kleine", private Geschehen wie der unbegreifliche Tod des Vaters kann für den einzelnen wichtig sein – ist es dann nicht auch Geschichte? Und zuletzt erklärt Giese wiederum seinem Enkel, warum er einen gefundenen Knochen ins Museum bringen soll: "In ein Museum gehört, was man nicht vergessen soll." – Es geht also um die Bedeutsamkeit, aber auch um die Bewältigung von Vergangenem, um die Haltung der Generationen. Ein Mann hat Schuld auf sich geladen. Der eine Sohn zerbricht daran, der andere weist dies Geschehen als für ihn irrelevant zurück. Und der Enkel muß wieder mit all dem fertig werden.

Giese also, einst Offizier der deutschen Wehrmacht, heute Großindustrieller und somit nicht ohne Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft, gerät in eine Situation, die ihn anstößt, Bilanz zu ziehen. Man hat ihm nach einem Autounfall, bei dem sein Sohn auf dem Beifahrersitz tödlich verunglückte, den Führerschein abgenommen. Die Frage der Schuld beunruhigt sein Gewissen. Überdies hat ein Journalist sich Giese aufs Korn genommen und seine Vergangenheit ausgegraben. Zwar ist juristisch nicht genau zu klären, ob Giese wirklich, damals Ortskommandant eines griechischen Dorfes, den Befehl zur Ausrottung der Bevölkerung als Vergeltung für die Ermordung deutscher Soldaten durch Partisanen gegeben und sogar persönlich ein Kind erschossen hat oder ob dies nicht der Führer eines Sonderkommandos getan hat. Die aus Griechenland geholte einzige Überlebende jenes Massakers vermag in dem alten Mann nicht mehr mit Sicherheit jenen Mörder von einst zu erkennen, dem jahrzehntelang ihr Haß galt. Doch die Presse führt die Kampagne gegen Giese weiter. Der andere, wahrscheinlich Schuldige, ist heute ein unbedeutender Mann. Ihn vor Gericht zu zerren, gibt kein dankbares Ziel.

Hier greift Schell ein Nebenthema auf, das er nicht weiter verfolgt: die Frage nach den Motiven für solche Kampagnen. Ist es echte Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber, geschieht es nur, um Unruhe zu stiften – tatsächlich kommt es zu Arbeiterdemonstrationen in Gieses Fabrik – oder um die Auflage zu steigern, aus Verantwortung oder wider besseres Wissen? Schell läßt dies ebenso in Schwebe, wie er es beim Fall Giese selbst tut. Die Verflechtungen sind zu kompliziert, um sie eindeutig zu beantworten. Auf Giese geht die Hexenjagd los – aber sie endet unverbindlich, mit einer Fernsehdiskussion, bei der man aufeinanderprallt, um sich dann freundlich die Hände zu schütteln, wenn die Sendezeit abgelaufen ist. Nichts wurde geklärt. Je näher man kommt, um so weniger erkennt man, heißt es einmal. Sicher gegenständlich von einer zu stark vergrößerten Photographie (hier fühlt man sich an Antonionis "Blow up" erinnert), aber übertragen doch wohl von dem Geschehen, das nicht mehr in den Griff zu bekommen ist. Geschichte – wie verarbeitet man sie? Ein Wort von Theodor Heuss wird zitiert, man solle nicht von einer kollektiven Schuld sprechen, sondern von einer kollektiven Scham. Reales Geschehen, Erinnerungen, Selbstgespräche und Phantasie fließen in diesem Film ineinander, die Ebenen von Vergangenheit und Gegenwart werden zur Einheit. Und Schell wählt für seine Geschichte, die zuletzt alles in der Schwebe des Ungeklärten, Unklärbaren läßt, einen Stil des Schwebenden zwischen Traum und Wirklichkeit.

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