Es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk

Deutschland 1989-1991 Spielfilm

So oder gar nicht

Hugo Niebelings Film "Es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk" macht aus Bachs Johannes-Passion ein hinreißendes Musical


Peter W. Jansen, TIP Magazin, Nr. 26, 1991

Der Verkehr einer Stadt mittlerer Größenordnung, es ist Sommer. Menschen laufen über die Straßen, gehen durch eine der modernen Fußgängerzonen, die die Städte so ununterscheidbar machen. Es ist eine Stadt wie jede andere auch. Zu den Bildern von Anfang an Passionsmusik, und die Bilder werden allmählich zielstrebiger, einzelne Personen lösen sich aus der Menge; sie gehen in eine Kirche, aber man sieht sofort, daß sie zur Arbeit gehen. In der Garderobe, sie scheint in der Krypta oder der Sakristei installiert zu sein, vergleicht einer der Darsteller seine Maske mit einer Darstellung des Jesus von Nazareth. Dann sagt er. "Das bin ich nicht", und sagt es um eine winzige Nuance zu bedeutungsvoll. Doch dann nimmt er die Perücke ab und enthüllt einen breiten, kahlgeschorenen Schädel: "So oder gar nicht."

So oder gar nicht war wahrscheinlich der Film nur zu machen, immer ganz dicht am feierlichsten Pathos, fast melodramatisch, und dann immer wieder als Darstellung seiner Mittel und Mittelbarkeit. Wo das Bedeutende und Bedeutsame schwer und belastend werden, wo der hohe Ton zu irritieren droht, interveniert schiere Artistik und macht aus der Passionsgeschichte, was auch Bach daraus gemacht hat: ein Artefakt. Es ist aus Musik und Mathematik, Stimmen und Gestalten. Kostümen und Bewegungen. Licht und Kamerafahrten. Kalkül und Choreographie. Drive und Begeisterung, eine begnadete Kopfgeburt.

"Es wäre gut, daß ein Mensch würde umbracht für das Volk" ist ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium und aus der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, und unter diesem Titel hat Hugo Niebeling seinen Film daraus gemacht. Vor allem im Dom von Speyer gedreht, ist er immer beides zugleich: konzertante Aufführung und Inszenierung. Spielfilmszenen sind vor allem die Rezitative, ist die Handlung, das sogenannte Passionsgeschehen, in dessen Mittelpunkt die Begegnung zwischen Jesus und Pilatus steht. Das Johannes-Evangelium und dann Bach und dann Niebeling, in dieser Reihenfolge und mit zunehmender Verschärfung, machen daraus ein nahezu klassisches Drama, das Drama einer unmöglichen Freundschaft.



Das Oratorium und seine szenische Darstellung, das ist ein heikles ästhetisches Unterfangen, wenn aus der Einheit des Musikwerks Aktion und Dialog herausgeschält werden und für sich zu stehen behaupten. Niebeling hat das Problem gelöst, indem er sich zur Gleichzeitigkeit von Musik und Inszenierung, Oratorium und Szene bekennt und nur durch sekunden-kurze Verschiebungen in der Montage das Nebeneinander im Gleichzeitigen kenntlich macht, nicht nur durch den Wechsel der Räume, sondern auch durch akustische Überlagerungen und Überlappungen, die den Raum zu einer Funktion der Synkope machen.

Hugo Niebeling, 60 Jahre alt, kommt vom Theater, hat als Filmregisseur mit Industriefilmen begonnen und dann nach Kunst- und Dokumentarfilmen hauptsächlich Musik- und Ballettfilme gemacht, zum Beispiel mit den Berliner Philharmonikern. Und Herbert von Karajan, zum Beispiel mit dem New York City Ballet. Ich habe bisher nichts davon gesehen, keine einzige der rund zwanzig Musik- und Ballettfilmproduktionen. Ich vermute aber, daß erst sie Niebeling instand gesetzt haben, diesen Passionsfilm zu machen. Aus jeder Szene und Einstellung läßt sich auch die Erfahrung lesen, die einer haben muß, um nicht nur den Einfall zu haben, sondern auch zu wissen oder wenigstens zu vermuten und zu probieren, wie er sich umsetzen läßt. Da ist auch manches verräterisch. Niebeling will zum Beispiel auch optisch verdeutlichen, daß seine Bildkomposition selbstverständlich nur der musikalischen Komposition folgt. Er will die Gliederung in der Einheit ohne Zwischenschnitt zeigen, wenn er von dem in Gruppen wie zum Kanon aufgestellten Chor abschwenkt, statt zum Mittel der Montage zu greifen. Dabei handhabt er die schwere und für solche Operationen kaum geeignete 35-mm-Kamera wie ein elektronisches Gerät, was zu störenden Bildverzerrungen führt.

Der Film bedient sich der fulminanten historischen Aufnahme der Johannes-Passion durch den Münchner Bach-Chor und das Bach-Orchester unter Leitung von Karl Richter. Doch daß wir es mit einer Musik-Aufnahme von 1964 und im Film folglich mit Playback-Technik zu tun haben, wirkt in keinem Augenblick störend. So präzis ist der Film gearbeitet und so sehr hat sich die ungebrochene Dynamik von Richters Intepretation auf die Inszenierung übertragen. Sie behandelt Bachs Werk kühn und kühl, kalkuliert und emphatisch zugleich als hochdramatisches Musiktheater, als Tragödie mit Musik, Handlung und Tanz, die aus dem Oratorium glatt ein Musical machen.


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