Jadup und Boel

DDR 1980/1988 Spielfilm

Jadup und Boel


Fred Gehler, Sonntag, Berlin/DDR, 26.6.1988


Rainer Simon ist sehr asketisch mit Auskünften über seine filmischen Motivationen, gibt nur äußerst sparsam und dann meist nur fragmentarisch Einblicke in das, was man die "schöpferische Werkstatt" nennt. So ist es meines Erachtens ein Glücksfall zu nennen, daß Simon – AnIaß war die Verleihung des Konrad-Wolf-Preises an ihn – im Oktober vergangenen Jahres in seiner Dankesrede in der Akademie sehr nuanciert und konkret eigene Innovationen angesprochen und benannt hat.
"Der Mensch sehnt sich nach Übereinstimmung. Kunst aber entsteht selten aus Übereinstimmung", hieß es in dieser Rede. "Sie entsteht vielmehr aus Reibung mit der Umwelt, auch aus Trauer, Verzweiflung, aus tiefen inneren Konflikten. Der Künstler ist unzufrieden mit der Welt, er will sie verändern. Es scheint mir unmöglich, heutzutage in dieser Welt extremster Widersprüche ein Kunstwerk zu schaffen, ohne mit sich selbst und der Welt einen Konflikt auszutragen."

Rainer Simon nennt ausdrücklich das Infragestellen des Status quo, eine vorurteilsfreie Sicht auf die Wirklichkeit, ohne auf den Traum von einer besseren Welt zu verzichten. "Aber den Wunsch nicht für die Realität ausgeben. Dem Glauben nicht das Sein unterwerfen."

Ich halte diese Worte auch für einen bemerkenswerten Vorspruch zu dem Film "Jadup und Boel" und den Film selbst fast für eine Modellfabel zur anregenden Auseinandersetzung mit dem Bestehenden in uns und um uns. – Beim Zusammensturz eines baufälligen Gemäuers in einer altmärkischen Kleinstadt ("Hier passiert nichts seit 1000 Jahren") kommt ein Tagebuch ans Tageslicht. Es stammt von dem Mädchen Boel – 1945 mit einem Flüchtlingstreck in die Altmark gestrudelt. Boel wurde hier nie so recht heimisch und verschwand irgendwann – scheinbar ohne Spuren zu hinterlassen – aus der Stadt. Zurück ließ sie ein unentwirrbares Knäuel von Gerüchten, Verdächtigungen, aberwitzigen Mutmaßungen und bewußt gestreuten Falschnachrichten. Nun, nach Jahrzehnten, kommt der Gerüchtesud wieder ans Tageslicht. Jadup, auch er 1945 ein Fremder in der Stadt, durch eine seltsam-verwirrte pubertäre Beziehung in die damaligen Ereignisse verstrickt, heute Bürgermeister, ist der Hauptbetrogene. Eine merkwürdige Person taucht auf, sie führt dunkle Reden und heißt dazu noch Gewissen. Ein fahriger Ortschronist, der die wahre Geschichte der Stadt aufschreiben will, kommt in arge Nöte und findet keinen passablen Einstieg. Doch: Dieser geheimnisdurchwobene, mit Indizien einer Kriminalfabel erfüllte Filmbeginn ist gleichsam nur eine originelle Scharade, als Vorhang gelegt über die eigentliche Geschichte, den eigentlichen Konflikt. (…)


"Ich denke, daß es mein bester Film ist", hat Rainer Simon gesagt. Ich möchte nicht widersprechen. Es ist zweifellos sein vielschichtigster und dabei eine seiner ästhetisch anregendsten und spielerischsten Arbeiten. Der Ernst des Themas ist immer wieder auf phantasievolle Weise verfremdet und variiert. Da gibt es schöne surreale Intervalle, ironische Marginalien, Doppelbödiges und Verschmitztes. Da wird der rhetorisch-didaktische Ton zum Glück häufig gebrochen, da ist das missionarische Eifern in die Geschichte integriert, wird nie vordergründig. Schauspielerisch Solides bis Ungewöhnliches: Kurt Böwe, Katrin Knappe, Michael Gwisdek, Franciszek Pieczka und die fein-exzentrische Käthe Reichel. Ein wesentlicher, ein sehr zeitgemäßer Film, in den verstrichenen acht Jahren kaum gealtert. Rainer Simon: "Unsere Bilder können diese Realität nicht verändern, aber sie müssen das Bewußtsein dafür wach halten…"

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