Ikarus

DDR 1974/1975 Spielfilm

Ikarus


Rosemarie Rehahn, Wochenpost, Berlin/DDR, 19.9.1975


Der Held ist neun Jahre alt. Gerade neun geworden. Der Film erzählt von diesem Tag, dem neunten Geburtstag. Aber das ist kein Kinderfilm, obgleich Kinder, manche oder sogar viele, man kann sich da irren, ihn gut verstehen werden.

Das ist ein Film für Erwachsene; denn alles, was der Junge, Mathias, an diesem Tag erlebt und wie er es erlebt, kommt aus der Welt der Erwachsenen, seine Haltung ist Reaktion auf ihr Tun und Lassen; ihr Lassen vor allem, ihr Unterlassen. Nachlässigkeit, weil die Großen, mit ihren eignen großen Problemen beschäftigt, nicht sehen, daß hier ein kleiner Mensch die größte Aufmerksamkeit brauchte.

Was ist geschehen, was geschieht? Mathias hat erste bittere Erfahrungen gemacht, als die Eltern auseinandergingen. Ganz normal, wie der Vater sagt. Und Mathias selber kann die Namen der Schulkameraden nennen, die "geschieden sind". Ganz normal. lm guten. Aber die bösen Worte zwischen den Eltern haben dazugehört, und die Traurigkeit und Bitterkeit der Mutter gehörte dazu und schließlich der Auszug aus der vertrauten Wohnung, wo alles an seinem Platz stand, aus seinem Zimmer, das so sicher schien, wie für immer gemacht.

Mir gefällt, daß der Schluß nichts zurücknimmt von der abgrundtiefen Enttäuschung, dem Schmerz des Jungen, daß kein Happy-End drangeklebt wird. Aber es gibt im Film auch nicht. den dunklen Schlußpunkt, das Nimmermehr, wie es, wohl unter dem Eindruck von Aitmatows wunderbarem "Weißen Dampfer", in der literarischen Vorlage "Neun" steht (und ihr ansteht). (…)


Im Film ist da einer, der die Hand ausstreckt, wo andere die ihre in der Tasche haben. Mathias-lkarus hat sich die Flügel gebrochen. Es tut sehr weh. Für immer. Aber einer ist da, der die Hand ausstreckt. Und der Zuschauer ist da…

Vielleicht ist das das Wichtigste, das Schönste an diesem Film, daß er die Freundlichkeil, die Güte im Menschen mobilisiert, ihn empfindsamer macht für den anderen, Wärme, Verantwortungsgefühl fordert – und fördert. Und wie er es tut! Ungeheuer filmisch in der Wucht und der Zartheit seiner Bilderflut, im aufrührenden Zusammenklang von Musik, Ton, Bild, Gesichtern, Gesten. Das läßt dich nicht aus.

Einen poetischen Moralisten möchte man den Regisseur Heiner Carow nennen, von "Sie nannten ihn Amigo" über "Die Reise nach Sundevit" bis zum Publikumsfavoriten "Legende von Paul und Paula" und jetzt "lkarus". Immer steckt im poetischen Bild dringlicher Appell an sozialistische Menschlichkeit. Man möchte Carow entschieden beipflichten, wenn er die Polemik gegen GIeichgültigkeit,. Routine, wodurch immer ein Mensch gebeugt, verbogen werden kann, wenn er diese Polemik als das "revolutionäre Moment" seines Films bezeichnet. l

In der Tradition eines Slatan Dudow stehend, führt bei Carow eine greifbar genaue Abbildung der Wirklichkeit, sicht- und spürbar im kleinsten Detail der Straßen und Plätze, doch immer hinaus über bloßen Dokumentarismus. Vielleicht kann man sagen, er benutzte die geschaffene Authentizität als Sprungbrett für poetische Verdichtungen, für Symbole. So ist das Fliegen hier der sehr reale Wunsch des Jungen, der ihn zum Flugplatz und in verschiedene Abenteuer treibt, zugleich aber ist es unbändige Sehnsucht nach Harmonie. Fliegen, das assoziiert das unbeschreibliche, hier Bild und Lied (Texte Bettina Wegner) werdende GefühI, das er hatte, als er als Steppke an Vaters und Mutters sicherer Hand über die Erde "flog", wieder und immer wieder. (…)

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