Auf der anderen Seite

Deutschland Türkei Italien 2006/2007 Spielfilm

Der Leidenschaftliche

Fatih Akin arbeitet sich in den inneren Zirkel der europäischen Autorenfilmer vor



"Your film rocks". Das war cool gesagt und so etwas wie ein cinephiler Ritterschlag, beinahe wichtiger als die Trophäe. Frances McDormand, Jurypräsidentin der Berlinale 2003, sagte das zu Fatih Akin, als sie ihm den Goldenen Bären für Gegen die Wand überreichte. Ja, das furiose, zwischen Hamburg und Istanbul pendelnde Amour-fou-Melo des damals 31-Jährigen rockte und kassierte Preise ohne Ende. Nach dem Berlinale-Triumph räumte Akin beim Deutschen Filmpreis ab, schlug Pedro Almodóvar beim Europäischen Filmpreis und hatte international nicht nur auf Festivals Erfolg. So wurde, wie die "Libération" hübsch formulierte, "der türkischstämmige Hamburger mit Gegen die Wand, seinem vierten Spielfilm, vom Planeten der Cinéphilie adoptiert".

Hollywood rief an. Der Erfolg erzeugte mächtig Druck, dem Akin sich nicht beugen wollte: "Ich werde jetzt nicht nach Hollywood gehen, um irgendwas Gigantisches zu machen. In seinem Song ‚Mystic River’ erzählt Bob Marley doch von dieser leisen inneren Stimme, der man immer folgen sollte. Das will ich tun. Ich nehme mir erst mal Zeit zu schreiben. Gegen die Wand soll der erste Teil einer Trilogie sein, die ich ‚Liebe, Tod und Teufel’ nenne. Da schreibe ich also die Fortsetzung."

Während er an der Fortsetzung schrieb, über das Stichwort "Tod" nachdachte – "Ich sehe den Tod nicht als etwas Destruktives und Beendendes, sondern als Wandlung, Metamorphose, das ist schon in Gegen die Wand so, dass die Figuren immer wieder sterben und dann neu geboren werden" – und schon mal Fassbinder-Ikone Hanna Schygulla für das Projekt gewinnen konnte, tauchte Akin in die quirlige Musikszene Istanbuls ein und drehte Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul. Die Dokumentation wurde 2005 außer Konkurrenz in Cannes gezeigt, wo Akin in die Festivaljury berufen wurde.


Dieses Jahr nun war er mit Auf der anderen Seite, also dem lang erwarteten zweiten Teil seiner "Liebe, Tod und Teufel"-Trilogie, zum Cannes-Wettbewerb eingeladen. Dass der Film "nur" mit dem Drehbuchpreis prämiert wurde, war eine kleine Enttäuschung, die Akin hinter dem Dankessatz: "Am Anfang war das Wort" geschickt verbarg. Vorbehaltlos freuen konnte er sich über den Preis der Ökumenischen Jury und vor allem über die Lobeshymne im US-Branchenblatt Variety: "Der Punkt, an dem ein guter Regisseur die Karriere-Brücke überquert, um ein substanzielles internationales Talent zu werden, ist in Auf der anderen Seite (englischer Titel: The Edge of Heaven) offensichtlich, dem souveränen, zutiefst bewegenden fünften Spielfilm von Fatih Akin." Wie in seinen bisherigen Filmen, so fährt der amerikanische Kritiker fort, zeichne "der in Deutschland geborene türkische Filmemacher" Schicksale im Spannungsfeld zweier Kulturen, hier aber erreiche er einen humanen Rang, der den forcierten Romantizismus von Gegen die Wand oder die träumerische Tragikomik von Im Juli weit hinter sich lasse. Ein Urteil, dem beizupflichten ist, und das die Geltung, die sich Akin international erobert hat, treffend beschreibt. Eine Geltung, die sich auch darin ausdrückt, dass Martin Scorsese – "einer meiner Meister" – Akin in die "World Cine Foundation", die alte Filme vor dem Verfall retten und restaurieren will, geholt hat. Das ist, als wäre er nun im innersten Kreis, der Tafelrunde des internationalen Autorenkinos, aufgenommen.

Eine neue Form von Humanismus


Auf der anderen Seite überrascht zuerst durch den ruhigen, beinahe meditativen, balladesk fließenden Erzählgestus, der den Bildern Raum und Zeit gibt und einen deutlichen Kontrast darstellt zur dramatisch rockenden Aufgewühltheit von Gegen die Wand. Ein Kontrast, der sich in den jungen männlichen Helden der beiden Filme am schärfsten zeigt. War Cahit (den Birol Ünel spielte) in Gegen die Wand ein wilder, zügelloser, selbstzerstörerischer Charakter, so ist Nejat (Baki Davrak), der junge Mann in Auf der anderen Seite, das Gegenbild: sanft, besonnen, fürsorglich. Wenn man beide Figuren auch als Spiegel von Akins doppelgesichtigem Temperament deuten darf, dann repräsentiert Nejat die vom Furor suizidaler Verzweiflung abgewendete, nachdenkliche, spirituelle, feminine, fast "mütterliche" Seite. Die andere Seite sozusagen.

Auch in diesem Sinne darf man den Filmtitel deuten, der freilich zuerst auf das Jenseits des Todes verweist, auf die Wandlungen, die die sechs Hauptfiguren in der Begegnung mit dem Tod durchlaufen, Wandlungen hin zu Versöhnung und Vergebung, zur Konstruktion von Ersatzfamilien. Akin nennt Nejat eine "androgyne Figur", die die verzweigte Geschichte, die sechs Schicksale, die einander berühren, kreuzen und manchmal auch nur tangential streifen, umgreift und zusammen hält. Es ist sicher kein Zufall, dass entscheidende Szenen des Films in Küchen spielen (in einem frühen, ersten Entwurf hieß er "Soul Kitchen") und dass er zwei Mutterfiguren porträtiert: in der einen, der türkischen Mutter, deutet sich das Hure-und-Heilige-Bild an, die andere, die deutsche, erscheint als Mama-Glucke. Sagen wir also: in Auf der anderen Seite erforscht Akin seine weiblich-mütterliche Seite und erzählt von humanen Reifungsprozessen.

Nejat ist Germanistikprofessor. Seinen Studenten erklärt er, dass sich Goethe gegen Revolutionen ausgesprochen habe, und er zitiert: "Es geht so viel Altes und Bewährtes kaputt wie Neues geschaffen wird." Nejat kümmert sich hingebungsvoll um seinen alten, herzkranken türkischen Vater: ein Witwer namens Ali Aksu (Tuncel Kurtiz), der in Bremen als Taxifahrer gearbeitet hat, der seinen Sohn allein großziehen musste und der auf seine alten Tag noch einmal so etwas wie eine Familie haben will. Deshalb holt er eine türkische Prostituierte, Yeter Öztürk (Nursel Köse), aus dem Rotlichtbezirk, wo sie versiert ihrem Gewerbe nachgeht, ins Haus. Aber Yeter zeigt sich nicht immer gefügig, und einmal, in einer plötzlichen Aufwallung seiner patriarchal polternden Natur, schlägt Ali zu – was zu einem unglücklichen Sturz und dem Tod Yeters führt. Ali wird verhaftet und in die Türkei abgeschoben. Nejat sagt sich von seinem Vater los, und weil er erfahren hat, dass Yeter mit dem Geld, das sie als Prostituierte verdiente, ihre Tochter Ayten (Nurgül Yesilcay) in Istanbul unterstützte, fährt er nach Istanbul, übernimmt dort eine deutsche Buchhandlung und sucht nach Ayten. Die aber, eine kämpferische politische Aktivistin, ist in der Gegenrichtung unterwegs und reist auf der Flucht vor der türkischen Polizei illegal nach Deutschland ein.

Klare, einleuchtende Bilder

Die Erzählung wechselt von einer Figur zur nächsten und springt dabei in der Zeit immer wieder zurück, was eine multiperspektivische rondellartige Storyform ergibt, ähnlich wie in Kurosawas Rashomon. Der Film begleitet nun Aytens Schicksal: die Begegnung mit der jungen, engagierten deutschen Studentin Lotte Staub (Patrycia Ziolkowska), aus der sich eine Liebesgeschichte ergibt, und ein heftiger Streit mit Lottes eifersüchtiger, gluckenhafter Mutter (Hanna Schygulla), die Verhaftung durch die deutschen Asylbehörden, die Abschiebung in ein türkisches Frauengefängnis. Recht verzwickt muss sich diese Sechs-Personen-Geschichte – sie führt schließlich nach Istanbul, wo Lotte umkommt und deren Mutter, das Engagement der Tochter übernehmend, auf Nejat trifft – in der Nacherzählung anhören. Tatsächlich erscheinen einige Storyelemente allzu konstruiert, um all die großen Themen unterzubringen: Immigration und Asylrecht, Clash der Kulturen, politischer Kampf und abgeklärte Lebensphilosophie, familiärer Streit und Versöhnung.

So haben die Liebesgeschichte und Lottes Tod etwas Gebasteltes. Aber Akin findet doch klare, durchsichtige Bilder und ergreifende Erzähllinien, vor allem gelingen ihm wunderbare Porträts, in denen die Temperamente präzise geschildert sind und herrlich aufstrahlen: die Knorrigkeit des Vater, der kämpferische Elan Aytens, die kontemplative Ruhe Nejats. Besonders schön: die Küchenszene, in der Hanna Schygulla einen Kirschkuchen belegt, ihre vom Kirschsaft geröteten Finger erhebt und Ayten – auf die sie eifersüchtig ist, weil sie ihr Lotte wegnimmt – streng zurechtweist. Wie da ihr Zorn langsam anschwillt und die Lethargie ihres Wesens aufbricht, das gehört zu den Glanzstücken des Films.

Akins Genie ist seine Schauspielerführung, die herausfordert, antreibt, hervorlockt und Entfaltungsraum schenkt. Seine Vorliebe für das Melodramatische kann er hier zügeln und auf intimere, subtilere Gesten konzentrieren. Immer schon waren seine Filme dort am stärksten, wo sie Autobiografisches spiegelten. Das weit aufgespannte Schicksalsgeflecht von Auf der anderen Seite ist davon durchdrungen, erzählt aber nicht nur inhaltlich von Reifungsprozessen, sondern bezeugt sie auch stilistisch-inszenatorisch. Man darf gespannt sein, wie Akin, der sich mit jedem Film neu zeigt, im abschließenden Teil seiner "Liebe, Tod und Teufel"-Trilogie, den Letzteren ins Bild setzen wird. Akin: "‘Teufel‘ steht für eine Reflexion über das sogenannte Böse. Wie viel stimmt von dem, was wir von den Religionen über Gut und Böse wissen? Ist Luzifer, der Lichtträger, wirklich Inbild des Bösen? Oder war er der Rebell, der sich für die Rechte der Menschen eingesetzt hat und deshalb verbannt worden ist? Das sind die Fragen, die mich interessieren."

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