Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Der lüsterne Meinungsterror
Wolf Donner, Die Zeit, 11.10.1974
Vor dem Problem des rechts-radikalen Boulevard-Journalismus haben der Staat und die Öffentlichkeit, zum Beispiel andere Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen, gleichermaßen versagt. Kopfschüttelnd beobachtet das europäische Ausland, was man "Westdeutsche Anarchisten-Hysterie" nennt, fragt nach den Gründen und Quellen und Motiven und bekam eine erste Antwort in Heinrich Bölls Fallstudie "Die verlorene Ehre der Katharina Blum".
Ein Buch, ein Film, ein deutsches Syndrom: Revolverjournaille, jene spezifisch westdeutsche Mischung aus Lüsternheit, reaktionärer Ideologie und unberechenbarer Heuchelei, ein hochgradig emotionalisierter Meinungsterror, der blindwütig sein vorgefaßtes Feindbild repetiert, der mit Skandalen, Sensationen und erbarmungsloser Ausbeutung von Privatleben seine Leserschaft auf Radikalismus konditioniert, der die dummen Schlagworte und gefährlichen Klischees liefert für heimliche Bürgerängste und Rechtsgelüste.
Böll wußte, wovon er sprach. Mitten im Stadium noch vager BM-Ermittlungcn verkündete "Bild" am 23. Dezember 1971: „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter." „Das ist nackter Faschismus, Verhetzung, Lüge, Dreck", empörte sich der Schriftsteller und empfahl, "den Notstand des öffentlichen Bewußtseins" auszurufen. Die Rechtspresse von "Quick" bis "Bild" schlug zurück und machte Böll zur Zielscheibe einer geifernden Kampagne, die bis heute anhält, verhöhnte und denunzierte ihn, klagte ihn latenter Komplizenschaft und geistigen Mittätertums an und konnte sich des Erfolgs rühmen, daß die Polizei sein Landhaus umstellte und durchsuchte.
Aus der Betroffenheit über diese Vorgänge ist "Katharina Blum" entstanden: Eine Haushälterin verbringt ahnungslos eine Nacht mit einem jungen Mann, der von der Polizei gesucht wird. Er kann entkommen, aber auf sie veranstalten die Polizei und ein Skandalblatt ein Kesseltreiben, das die eher keusche und sensible junge Frau völlig aus der Bahn wirft; sie weiß sich nicht mehr zu helfen und erschießt am Ende den Journalisten der "Zeitung", der sie schonungslos in den Dreck gezogen hat.
Das Buch verbirgt die Verstörtheit seines Autors hinter einem schweifenden, kauzigen Stil: Berichte wechseln da mit Zitaten, Rückblenden mit Reflexionen über die Darstellungsprobleme, Sprachkritik als Sprachkomik parodiert den Amts-, Juristen-, Umgangs- und Zeitungsjargon; die Erzählhaltung schillert zwischen Ironie und zornigem Ernst, Entrüstung und gläubiger Verehrung.
In enger Zusammenarbeit mit Böll schrieben Volker Schlöndorff und seine Frau Margarethe von Trotta das Drehbuch. Es filtert das sprachliche Labyrinth der Vorlage zu einem realistischen Dialog und Bölls verspielt-komplizierte Erzählstruktur zu einer gradlinigen, pragmatischen, guten Kinogeschichte.
Ein Mann wird heimlich verfolgt, er entkommt im Trubel des Kölner Karnevals und hat eine kurze, scheue Liebesbegegnung mit Katharina Blum. Dann packt die Polizei zu, mit einem absurden Aufwand, in einer ans Mittelalter oder an Science-fiction-Bilder erinnernden Maskerade; eine gespenstische Aktion, nicht ohne unfreiwillige Komik, die aber sofort mit physischer Beklemmung deutlich macht, worauf diese Maschinerie programmiert ist: auf Überführung statt Ermittlung, Verdachtsbestätigung statt Fahndung.
Das ist die furchtbare Erkenntnis, die der Film gleich zu Beginn vermittelt: daß in wenigen Augenblicken das Leben eines unschuldigen Menschen radikal verändert werden kann, wenn ihn der Zufall mit einem politisch fanatisierten Behördenapparat in Berührung bringt. Alles, was Katharina Blum sagt und tut, kann nur noch ihr Täterbild bestätigen; sie ist schuldig, ist Opfer, ein "Fall", Freiwild. Sie wird sofort geduzt, physisch angegriffen, gedemütigt (sie muß sich völlig ausziehen) und beleidigt ("Hat er Dich denn gefickt?"). Man führt sie gewaltsam ab, als gefährde sie die Gepanzerten um sich, packt sie bei den Haaren und hält ihr Gesicht in die Kameras der Reporter (die gleiche Szene hat sich einmal mit Ulrike Meinhof abgespielt), man schüchtert sie ein, schikaniert sie, droht ihr.
Katharina Blum ist diesem psychischen Terror hilflos und fassungslos ausgeliefert. Ihr verletztes Ehrgefühl, ihre moralische Integrität, ihr Selbstverständnis liegen so quer zum grobschlächtigen und selbstgefälligen Zynismus der Verhöre, daß es zu einer Verständigung nicht kommen kann. Wenn sie auf den Unterschied von "zärtlich" und "zudringlich" besteht, legen ihr das die Beamten nur als störrisch aus.
Doch die haben noch ein anderes Eisen im Feuer: ihre illegale, aber florierende Partnerschaft mit dem ortsansässigen Sensationsblatt, der "Zeitung". Die holt sich auf ihre Art das Belastungsmaterial zusammen und steht im regen Austausch mit der Polizei.
Eine Aussage, ein Photo, ein Verdacht werden hier gewechselt und dort benutzt, beide Seiten haben das gleiche Interesse, eine Hand wäscht die andere. Vorwürfen und Protesten begegnet die Polizei mit arglosem Erstaunen: Man habe doch schließlich die Pressefreiheit, oder achselzuckend: Diese Art von Journalismus sei eben so.
Die "Zeitung" sucht, wie die Polizei, nur den Stoff für eine bereits konzipierte Geschichte. Mit Lügen und Fälschungen konzipiert sie das Reizbild der linken Hure, mit kalkulierter Hysterie betreibt sie die Diffamierung, den Rufmord, die öffentliche Verurteilung der Katharina Blum, bevor man ihr die geringste Schuld nachweisen kann.
Als letztes wirkt in dieser Kampagne die Bevölkerung selbst mit. Die dumpfe Aggression, die die "Zeitung" mit subtiler Geilheit schürt, kommt hier, in ihrem Resonanzboden, ganz direkt zum Ausdruck. Das Volk hat die Botschaft verstanden: Spricht die "Zeitung" vom "Räuberliebchen" und der "Mörderbraut", so sagen die Leute "Nüttchen" oder "Kommunistensau", wenn sie Katharina anpöbeln, ihr eklige Briefe und Pornophotos schicken, ihr am Telephon Obszönitäten ins Ohr zischeln. Katharina Blum oder das Krankheitsbild einer Gesellschaft.
Angela Winkler spielt die Hauptrolle. Sie ist so verletzlich, daß man sie sofort beschützen möchte. Sie strahlt so viel natürliche Würde und moralische Kraft aus, daß man sie verehren muß. Auf das, was ihr geschieht, reagiert sie mit kreatürlicher Naivität: Bei der Lektüre, der "Zeitung" muß sie erbrechen, nach der Durchsicht der Schmähbriefe zertrümmert sie ihre Einrichtung. Sie leidet nicht ergeben, sondern lehnt sich auf, stumm, mit einem fast archaischen Sinn für Gerechtigkeit. Angela Winkler hat jene Unschuld und leise Rigorosität, mit der Jugendliche in Diskussionen die Erwachsenen verwirren und jene "plebejische Sensibilität", die Bölls Frauenfiguren zu so anziehenden Traum- und Märchenfiguren machen. A Star is born und wieder einer von der Berliner Schaubühne.
Mario Adorfs Kommissar Beizmenne kann dieser übermächtigen Gestalt gegenüber nur zu groben Mitteln greifen. Er ist brutal und jovial, macht sich händereibend ans Geschäft, stößt verdattert und ratlos auf die nonkonforme Aufrichtigkeit seines Gegenübers, droht und flucht: ein aufgeplustertes Nichts, das wieder in sich zusammenfällt, wenn er die Pose allerhöchster Staatsdienerschaft ablegt, "persönlich" wird und sein Butterbrot auspackt.
Dieter Lasers Reporter ist ein leider sehr präzis erfaßter Typus, mancher Zeitungsverleger wird seine helle Freude an ihm haben: ein glatter, flotter, salopper Teufel, eitel, immer sehr geschäftig, selbstsicher, ein "Macher", der weiß was sein Blatt braucht. Er schleicht ans Sterbelager von Katharinas Mutter, legt ihr irgend etwas in den Mund, das er gebrauchen kann ("Man muß einfachen Leuten etwas Artikulationshilfe geben"), bringt die alte; Frau damit wahrscheinlich um und profitiert auch davon noch: "Erstes Opfer der Anarchistenbraut" lautet am nächsten Tag seine Schlagzeile.
Der ölige Industrielle Karl Heinz Vosgeraus, die in Maßen verständnisvollen, vermögenden Liberalen von Hannelore Hoger und Heinz Bennent, Rolf Beckers Staatsanwalt, der unter jedem Regime so säuberlich sein Privatleben von seinen beruflichen Machenschaften zu trennen wußte: genaue Figuren, man glaubt sie zu kennen, sie begegnen uns allabendlich in der "Tagesschau". Der geschickt geraffte und spannende Erzählfluß des Films, der Aufbau der einzelnen Szenen, Kamera und Schnitt sind professionell und machen "Katharina Blum" sicher für ein großes Publikum attraktiv.
Es sei denn, der massive Vorausjubel erweist sich als Querschläger. Denn es handelt sich hier um die Kampffront des neuen deutschen Kinos ("der Durchbruch") oder um ein Pferderennen ("Nun haben sich die Schlöndorffs wieder an die Spitze gesetzt"), wurde dieser Film lange vor seinem Start förmlich totgelobt. ("eine neue Ebene", "ein Glücksfall", "ein Musterbeispiel") und von Schlöndorff selbst vorweg zerredet und mit einem gefährlichem Anspruch überfrachtet (ein Film, "wie er seit Jahren in Deutschland nicht mehr gemacht wurde"; "Das ist Dynamit – ein deutsches Watergate"; Angela Winkler eine "Leitfigur für eine ganze Kinogeneration"; "Ich hoffe, daß "Katharina Blum" mein "Chinatown" wird).
Die deutsche Presse ist seit Jahren sehr rigide mit der heimischen Filmproduktion verfahren, an eine prinzipielle Hilfestellung war hier nie zu denken. Gerade weil aber vorauszusehen ist, daß es.sich die Springer-Presse sehr leicht machen wird mit diesem Film, sollte man ihn sehr ernst und das heißt: sehr kritisch nehmen. Gerade weil alle darauf warten, daß der vielbeschworene neue deutsche Film endlich auch das große Hinspiel im In- und Ausland erbringt sollte die Kritik nicht zur Akklamation als Pflichtkür verkommen wie in Frankreich. Eine gute Gesinnung und ein brennend aktuelles, wichtiges Thema sind so wenig ausreichende Kriterien wie die kommerziellen Chancen des Films.
Trotz eingestandener Einschüchterung also ein paar Einwände.
Erstens: Der Film bleibt, wie schon Bölls Pamphlet, bei der Schwarzweißzeichnung, bei der – zugegeben sehr kinogerechten, suggestiven – Konfiguration von einem Engel samt einigen sympathischen Freunden hier, lauter Schurken und Fieslingen dort. Da gibt es wenig Differenzierung, keinen Abstand, keine Alternative. Das "Nachspiel", die Beerdigung des Journalisten, ist bis zum grellen politischen Kabarett verzerrt.
Zweitens: Schlöndorff/Trotta setzen einzig auf die Überzeugungskraft des vorgeführten Einzelschicksals und verzichten auf jede Argumentation und Analyse. Das Zusammenspiel etwa von Polizei, Justiz und Rechtspresse wird nur in seinen Auswirkungen erfahrbar, aber nicht auf seinen Mechanismus und seinen politischen Hintergrund hin transparent gemacht. "Katharina Blum", ein eminent politisches Sujet, bleibt als Film konsequent unpolitisch. Drittens schließlich umgehen die Regisseure jede Stellungnahme zur Figur des Anarchisten. Ist er überhaupt einer, ist er schuldig, ein politisch motivierter Täter oder nur ein harmloser "kleiner Fisch", wie in der Vorlage? Die Figur von Jürgen Prochnow bleibt ein Märchenprinz, ein Schemen, das durch ein paar idyllisch untermalte Szenen gleitet. Ein Krimineller, gar ein politischer, als eine zumindest durch die Hauptfigur positiv sanktionierte Person: für einen westdeutschen Film scheint das noch zu prekär, zu riskant zu sein.
Diese Einwände bezeichnen freilich zugleich die Vorzüge des Films. "Die richtigen Personen in der richtigen Situation" nennt Schlöndorff die Methodik des Erzählers Bölls, und das ist das Prinzip des Films. Er erzählt einen konkreten Fall, ganz sinnlich und durchaus emotional. Diese Kinofigur Katharina Blum, eine verführerische Identifikationsofferte, glaubwürdig und ergreifend, eine Frau, die unser ganzes Gefühl in Bewegung setzt, macht uns so betroffen, weil sie uns so unmittelbar die zwei bedrückenden Wahrheiten ihrer Geschichte vermittelt: daß jedem von uns das gleiche passieren könnte wie ihr, mit derselben brutalen Logik, und man genauso verletzt, zerstört, wehrlos bliebe; und daß so Gewalt als Gegengewalt entsteht, daß einer dermaßen in die Enge getrieben, sich wehren muß und sich nur noch radikalisieren kann.
© Wolf Donner