Die Büchse der Pandora

Deutschland 1928/1929 Spielfilm

Lulu



Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 17.2.1929


Frei nach dem "Erdgeist" und der "Büchse von Pandora" hat man einen Film gedreht, der jetzt im Capitol vorgeführt wird. Die Tiefenwirkung des gewaltigen Wedekindschen Stückes auf die Fläche bannen zu wollen, war ein Wagnis. Es ist nur zum kleinen Teil geglückt. Gewiß sind die Szenen Wedekinds auch im äußeren Sinne an Handlung reich. Aber diese Handlung ist so an den Dialog und durch den Dialog wiederum so an den Bühnenraum gekettet, daß die Kamera sie gar nicht fassen kann. Weder hat sie etwas mit jener Art von Wirklichkeit gemein, die dem Kurbelkasten gegenübersteht, noch ist es ihr möglich, auf das Wort zu verzichten. Man muß sie also gehörig verändern, um hoffen zu dürfen, daß auch nur ein Bruchteil ihrer Bedeutung mit in den Streifen eingehe.

Nun, man hat die Handlung verändert. Was aber ist geschehen? Aus dem tragischen Ablauf ist ein Gesellschaftsstück geworden, mit einer Gerichtsszene, einem Spielsalon, einer prunkhaften Revue und mondänem Treiben. Ein großer Ausstattungsapparat tritt so an die Stelle der Bühnenvorgänge, in denen sich die Sprache verleiblicht. Ersetzt er die Sprache? Er ersetzt sie nicht, baut vielmehr der Dämonie ein üppiges Haus, in dem sie nicht wohnen kann. Lulu, die Naturkraft, drückt sich bei Wedekind sichtbar auf der Bühne aus. Im Film wird sie von Sichtbarkeiten umstellt, die ihr den richtigen Ausdruck verwehren. Man hat einen Übergriff bei der Verfilmung begangen. Man hat eine Gestaltung auf die Leinwand zwingen wollen, die Leben allein hat, wenn sie im Raum tönen darf. Nur gegen das Ende hin ist eine Annäherung an den Geist des Wedekindstückes gelungen. Der Nebel in den Londoner Straßen hüllt die Welt so ein, daß sich der Mikrokosmos des Dichters aufschließen kann. Die Treppe, die zur Dachkammer führt, ist echt. Und während des Zusammenseins mit dem Bauchaufschlitzer schwinden hinreichend die störenden Konturen der Dinge.

Der Regisseur G. W. Pabst hat sich sehr um Formung bemüht. Leider macht er zu viele Abschweifungen und entgleitet bei den Interieurs immer wieder ins Kunstgewerbliche. Bei der Längenbemessung der Szenen folgt er nicht genug dem inneren Gehör, sondern läßt sich von dem Glanz stummer Dekorationen betäuben. Immerhin ist der englische Weihnachtsmarkt sicher eingebaut, und das blitzende Messer erscheint als Verhängnis.

Louise Brooks gibt die Lulu. Sie wirkt durch ihr Kindergesicht, das angesichts der Schreckensereignisse rein heraustritt und mitten im Blutwirbel nur um so schrecklicher ist. Es fehlt ihr an der Gewalt des Trieblichen, und für die Dirne reicht sie nicht aus. (Zwischen ihr und Lulu steht das Girl.) Großartig ist Fritz Kortner als Dr. Schön: dumpf, hart, elegant, mit eingemauerter Seele. Krafft Raschigs Quast ist zu oberflächlich hingesetzt, und den Jack (Gustav Dießl) hätte man sich doch anders vorgestellt. Carl Goetz leiht dem Schigolch die nötige Verkommenheit, Franz Lederer führt als Alwa seine hübsche Jugend ins Treffen. Die Gräfin Geschwitz schließlich wird durch Alice Roberte treffend charakterisiert.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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