Ostsee für Sturköppe

Die Tischlerin Eva Jensen, die sich in Hamburg von ihrem Freund getrennt hat, möchte an der Ostsee einen kompletten Neuanfang machen. Denn sie hat an die beliebte Urlaubsregion am Darß glückliche und zugleich traurige Erinnerungen: als kleines Kind (Mia Sophie Bamberg) verlebte sie mit ihrer Schwester (Auguste Hübner) die schönsten, weil völlig unbeschwerte Sommerferien ihres Lebens. Wovon nur noch ein in die Rinde einer Birke geritztes Herz mit ihren Initialen zeugt: Evas Schwester ist bald danach an Leukämie erkrankt und gestorben.

Es ist diese Erinnerung, die Eva bei einer Anzeige im Internet elektrisierte: Offeriert wurde eine Werkstatt für Strandkörbe. Der ideale Standort, um sich mit der Abfindung aus dem anteiligen Verkauf der Hamburger Immobilie selbstständig zu machen. Leider ist die Verkäuferseite gespalten: Während die Inserentin, die Strandkorbverleiherin Heide Kniepholt, auf der Stelle zusagen möchte, da sie dringend einen größeren Geldbetrag zur Dachsanierung ihres Hauses benötigt, denkt der von ihr getrenntlebende Mann Hinrich gar nicht daran, seine traumhaft gelegene Werkstatt mit Meerblick aufzugeben. Zudem diese inzwischen auch als seine Wohnung dient, seitdem er aus dem gemeinsam errichteten Haus ausgezogen ist.

Um den grantelnden 75-Jährigen umzustimmen, sucht die Hanseatin das Gespräch mit dem Sturkopf. Auch im Dorf, das eigentlich dringend eine Tischlerin braucht, tut sich die Neue unerwartet schwer. So beim alteingesessenen älteren Ehepaar Lüdtke (Christa Rockstroh und Christian Grashof), das am Hamburger Kennzeichen von Evas rotem Kastenwagen den „Wessi“ erkannt hat. Mithilfe der einst selbst hier fremden und lange fremdelnden Schulhausmeisterin Trine Sanchez (Claudia Geisler-Bading), bei der sie ein Ferienzimmer angemietet hat, beginnt Eva mit ihren Nachbarn zu sprechen. Und diese allmählich auch zu verstehen, nachdem sie von ihren schmerzlichen Erfahrungen mit übergriffigen Wessis in der unmittelbaren Nachwende-Zeit erfahren hat.

Doch diese sind nichts im Vergleich zum Verlust ihres Sohnes, der nach einem tödlich verlaufenden Fluchtversuch zu DDR-Zeiten über die Ostsee nach Skandinavien Heide und Hinrich Kniepholt auseinandergebracht hat. Von der Verschleierung des politisch motivierten Mordes der „Grenzorgane“ und der Schweigespirale im Ort ganz abgesehen macht sich Hinrich schwere Vorwürfe: Bei einem Ausflug auf die Insel Hiddensee wurden Vater und Sohn zufällig Zeuge eines gescheiterten Fluchtversuchs mit ebenfalls tödlichem Ausgang. Hinrich hielt damals seinen Sohn mit Gewalt davor zurück, sich aus der Deckung zu wagen.

Gefallen findet Eva an dem Kitesurfer Christian Petersen. Der attraktive junge Mann betreibt den spektakulären Sport freilich nur als Hobby. Im Hauptberuf führt er zusammen mit seinem älteren Bruder Malte Petersen (Matteo Burdack) einen Fischhandel mit eigener Räucherei. Dass er bald als Konkurrent um die Werkstatt auftritt, weil er sich mit einem Fischrestaurant in dieser bevorzugten Lage aus der Bevormundung Maltes befreien will, nimmt Eva zunächst sportlich…

„Ostsee für Sturköppe“ ist das Langfilmdebüt der Regisseurin Joana Vogdt, die 1981 in Frankfurt am Main geboren wurde, aber in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern aufwuchs. Nach dem Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg und La fémis, dem Atelier Ludwigsburg-Paris (Postgraduiertenförderung), war sie als Trainee in New York. Anschließend wirkte sie an zahlreichen Kinospielfilmen mit, bevor sie 2018 Stipendiatin in der Drehbuchwerkstatt der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) München wurde. 2020 erschienen ihre Kurzspielfilmdebüts „Nachtbesuch“ und „Fließende Grenze“, die mehrfach ausgezeichnet wurden.

Die Wiederbegegnung mit gleich drei Defa-Stars, Jutta Wachowiak (83), Hermann Beyer (80) und Christian Grashof (80), wurde am 5. Januar 2024 in der ARD erstausgestrahlt. Dass die Geschichte einer Hamburgerin, die auf dem Darß eine Tischlerei eröffnen will, auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung keine Selbstverständlichkeit ist, weil die Narben der Nach-Wendezeit noch zu tief sitzen, ist von manchen Kritikern als „altbacken“ und „aus der Zeit gefallen“ gescholten worden. Die aktuelle Nachrichtenlage belehrt uns leider eines Besseren.

Pitt Herrmann