Begegnung mit der alten Heimat - ein Wiedersehen mit Berlin

Wilmersdorf, Zehlendorf, besonders das Villenviertel am Nikolassee – das „Paradies auf Erden“ schwärmt der Arzt Professor Werner Silberstein von unbeschwerten Kindertagen. Er hat als wissenschaftlicher Assistent am Robert-Koch-Institut im Wedding gearbeitet, bis er die braune Gefahr am Horizont aufkommen sah und 1933 nach Palästina emigrierte. Thomas Hartwig und sein Kameramann Horst Schier treffen ihn in Tel Aviv, nachdem er eine Einladung des Berliner Senats erhalten hat, nach 46 Jahren erstmals wieder seine Geburtsstadt zu besuchen. Er freut sich darauf, einerseits. Und ist dankbar für diese Geste der Versöhnung, die der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Schütz initiierte. Andererseits fährt Werner Silberstein mit gemischten Gefühlen nach Berlin, es ist keine Rückkehr nach Hause: Seine Heimat ist und bleibt Israel.

Vom Flughafen Ben Gurion geht’s zusammen mit anderen Teilnehmern des 1969 aufgelegten Besuchsprogramms des West-Berliner Senats nach Tegel. In den zehn Jahren bis zur Entstehung dieses Auftragswerkes des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin haben 10.000 ehemalige Einwohner Berlin wiedergesehen – mit überwiegend positiver Resonanz. Hans Steinitz, Chefredakteur der jüdischen Zeitschrift „Der Aufbau“ in New York, bringt es am Ende des Films bei einer Dampferfahrt auf der Havel auf den Punkt: Bei allem Schmerz über die Vergangenheit sollte die von Deutschland ausgestreckte Hand mit Freude angenommen werden.

Als der Flieger aus Israel eine Landeschleife über dem Internationalen Kongresszentrum ICC macht, hat Karin Haban historische Berlin-Aufnahmen aus der Zwischenkriegszeit in die Doku geschnitten und Thomas Hartwig listet als Sprecher aus dem Off prominente Berliner auf, die der generalstabsmäßig geplanten physischen Vernichtung der Juden zum Opfer fallen sollten und ins Exil gingen: Albert Einstein, die Autoren Alfred Döblin und Kurt Tucholsky, die Filmschauspieler Albert Bassermann und Elisabeth Bergner, die Theatermacher Ernst Deutsch, Fritz Kortner und Max Reinhardt, der Opernsänger Richard Tauber und der Dirigent Bruno Walter. Die Wannseekonferenz hatte, so Hartwig, bereits zwanzig Jahre zuvor einen Vorläufer mit der Ermordung des Reichsministers Walter Rathenau im Grunewald durch Rechtsradikale.

Dietrich Stobbe als amtierender Regierender Bürgermeister empfängt die Gäste zum Zehnjährigen des Besuchsprogramms im ICC und zitiert seinen Vorgänger Klaus Schütz: „Im Zweifel für Israel“. Werner Silberstein kann sein Geburtshaus nicht mehr ausfindig machen, wird aber im Robert-Koch-Institut empfangen mit Kopien von Dokumenten seiner damaligen Tätigkeit dort. Bei einer Stadtrundfahrt, Stationen sind auch die Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ im Reichstagsgebäude und die Jüdische Gemeinde an der Fasanenstraße, wo die Gruppe vom Vorsitzenden Heinz Galinski begrüßt wird, entdeckt Oskar Süßapfel, dessen Familie Deutschland 1936 verlassen musste, an der Meinekestraße in Charlottenburg das elterliche Restaurant wieder. Der Taxifahrer ist in der Grenadierstraße aufgewachsen und, an der Seite seiner Gattin Dolli, sehr aufgeregt, als er einiges aus seiner Kindheit wiedererkennt. Dagegen gibt’s am Potsdamer Platz nur ungläubiges Staunen aller Businsassen aus Israel: Der neben dem Alex lebendigste Ort des alten Berlins ist eine leere Wüste an der Mauer.

Jeanpaul Goergen, Kurator der Reihe „Berlin.Dokument“ im Zeughauskino anlässlich einer Wiederaufführung im November 2021: „1969 rief der Berliner Senat ein Besuchsprogramm für NS-Verfolgte ins Leben. In ‚Begegnung mit der alten Heimat‘ von 1979 begleitet Thomas Hartwig den Bakteriologen Werner Silberstein, der bis 1933 am Robert-Koch-Institut arbeitete, und das im Scheunenviertel aufgewachsene Ehepaar Süßapfel bei ihrer Reise von Israel nach Berlin. Der Film erinnert an die ehemals fünftgrößte jüdische Gemeinde der Welt und zeigt Ausschnitte aus einer Feier zum zehnjährigen Bestehen des Programms. Die Gäste aus aller Welt nehmen an Stadtrundfahrten teil; einige versuchen, die Orte ihrer Kindheit und Jugend wiederzufinden.“

Pitt Herrmann