Die entfesselte Kamera

Mit dem Aufzug fahren wir in die Lobby des Hotels "Atlantic" hinunter und schauen von oben auf das geschäftige Treiben von Gästen und Kofferträgern. Ein Page springt uns vor's Gesicht, öffnet die Aufzugtür und verneigt sich elegant. Wir verlassen den Aufzug und an uns vorbei drängen sich einige Gäste, die es augenscheinlich eilig haben. Schnitt. Unaufhörlich rotiert die gläserne Drehtür des Hotels, während wir uns ihr nähern. Durch sie hindurch sehen wir den alten und stolzen Portier, wie er einige feine Damen und Herren unter einem großen, schwarzen Schirm durch den Regen zum Wagen geleitet. Schon kommen die nächsten Gäste angefahren, sie haben schweres Gepäck dabei. Der alte Portier schaut von unten auf den riesigen Koffer, er ist zu schwer für seine müden Knochen, doch seine Kollegen sind beschäftigt und so muss er ihn notgedrungen selbst in die Lobby tragen.

Quelle: Murnau-Stiftung, SDK
"Der letzte Mann": Karl Freund (2.v.r.), F.W. Murnau (rechts) bei den Dreharbeiten

So beginnt der ab Juli 1924 in Babelsberg gedrehte Film "Der letzte Mann" von Friedrich Wilhelm Murnau. Die Großstadt dieser Geschichte stammt von den Filmarchitekten Robert Herlth und Walter Röhrig; unendlich scheint sie auf der Leinwand zu sein, in Wirklichkeit aber wirkt hier ein gelungenes Spiel mit der Perspektive. Während vorne erwachsene Menschen und Autos die Straße kreuzen, bewegen sich weiter hinten Kinder durch’s Bild und noch weiter hinten winzige Figuren aus Pappe. Im Film-Kurier vom 13. September 1924 heißt es dazu: "Die Straßenkulisse ist an der Front acht Meter hoch und verjüngt sich nach hinten auf vier Meter. Der Wolkenkratzer, dessen normale Höhe 120 Meter betragen würde, mißt knapp zwölf Meter. Also so ziemlich das Verhältnis 1:10, welches überhaupt bei dieser Dekoration durchgeführt erscheint. Bei Bauten, bei Autos, bei Menschen."

Der alte Portier wird gespielt von Emil Jannings, zu Beginn der Dreharbeiten gerade einmal 40 Jahre alt. An der Authentizität des Alten besteht jedoch in keiner Sekunde des Films auch nur der geringste Zweifel. Jannings, Murnau, Herlth und Röhrig – sie alle gemeinsam erzählen diese vom Drehbuchautor Carl Mayer geschriebene Handlung, die, so schreibt Siegfried Kracauer 1925 in der Frankfurter Zeitung, "nicht ins Optische erst übersetzt werden muß, sondern aus ihm heraus sich gebiert": "Man kann sie erzählen, aber die Sprache ist ein schlechter Behelf, wo die Folge der Bilder, und sie allein, spricht und erzählt, wo das Auge hört und das Wort eine störende Illustration nur wäre."

Quelle: Murnau-Stiftung, DIF, FMP
"Der letzte Mann": F.W. Murnau (2.v.l.), Robert Baberske (3.v.l.), Emil Jannings (rechts) (Dreharbeiten)

Karl Freund, der Meisteroperateur
Von besonderer Bedeutung für den historischen Stellenwert dieses Films, der mit nur einem einzigen Zwischentitel auskommt, ist allerdings die Arbeit des Kameramanns Karl Freund. Er entwickelte die Technik der "entfesselten Kamera", bei der die Kamera durch den Operateur oder durch technische Hilfsmittel wie zum Beispiel Kräne in Bewegung gebracht wird. Zuvor war der Aufnahmeapparat in der Regel ans Stativ "gefesselt" gewesen, statisch wirkende horizontale und vertikale Schwenks überwogen. Zwar war Freund nicht der Erste, der die Kamera vom Stativ löste, doch wirkte seine Kameraarbeit viel beweglicher und offensiv leichtfüßiger als alles zuvor Gesehene.

Für besondere Momente in "Der letzte Mann" schnallte Freund die Kamera zum Beispiel auf eine Feuerleiter oder sich selbst vor die Brust; Letzteres, um die Bewegungen von Emil Jannings zu imitieren und die subjektive Sicht des Protagonisten zu suggerieren. Für die Anfangssequenz soll Freund eigenen Angaben zufolge die Kamera auf ein Fahrrad gebaut haben, das er dann aus dem Aufzug rollte, um eine verblüffend dynamische Kamerafahrt zu gestalten. Auch wenn diese Erzählung nach neueren Erkenntnissen wenig wahrscheinlich ist und Spiegelungen in der Drehtür der Szene kein Fahrrad erkennen lassen, tut dies der Wirkung der Szene und der epochalen Neugestaltung der Kameraführung keinen Abbruch.

Willy Haas schrieb im Juli 1924 im Film-Kurier über die Dreharbeiten: "Da turnt vor allem Freund, Karl Freund, der wohlbeleibte Herr Freund, unser deutscher Meisteroperateur. Im Schweiße seines Angesichts. Denn nicht nur sein stattliches Embonpoint belastet ihn, sondern ein ganzes Riemen- und Schnallenwerk um seinen Körper, das ein Holzgestell festhält, und in dieses Holzgestell hineinmontiert – der Aufnahmeapparat. Also ein rennender, schwebender, pirouettierender, sich verbeugender Apparat."


Quelle: Murnau-Stiftung, SDK, © Horst von Harbou - Deutsche Kinemathek
"Die Nibelungen": Dreharbeiten

Dichtung in Bildern
Mit der entfesselten Kamera hatte man nun eine spezifisch filmische Erzählweise gefunden, die den Film zunehmend vom Theater emanzipieren sollte. Dazu noch einmal Kracauer: "Eine Dichtung in Bildern, wie gesagt, in Bildern, die aus sich die Fabel entlassen, statt von ihr bestimmt zu sein. Ihre Abfolge und ihre Gestaltung, das Werk des Regisseurs Wilhelm Murnau, gibt das Letzte, das hier zu geben ist, man kann das Geschehen nicht ablösen von ihnen, es wohnt ihnen inne, die textlose optische Entfaltung selber ist zur einzig gemäßen künstlerischen Form geworden." Der Film, die bewegten Bilder, hatte neu an Bewegung gewonnen und sich damit um einen weiteren Schritt von Text und Sprache unabhängig gemacht. In Anspielung auf Goethe schrieb Willy Haas im Film-Kurier vom 24. Dezember 1924: "Also: 'Kinder, von hier und heute beginnt eine neue Epoche in der Geschichte der Kinematographie!'"

Freunds Kameraarbeit wurde stilprägend für die letzten Jahre des deutschen Stummfilms und verhalf diesem auch zu seinem letzten großen Erfolg in den USA, dem im Mai 1925 ebenfalls mit Emil Jannings in der Hauptrolle in Babelsberg entstandenen Film "Varieté" von Ewald André Dupont. Hier wird die Kamera zum Zentrum des Films, erzählt ganz subjektiv ihre Geschichte, während sie mit den Artisten um die Wette fliegt.

Quelle: DIF, SDK
"Varieté": Dreharbeiten

Neue Fesseln
Die Kameramänner von Babelsberg ließen sich in der Folge vieles einfallen, um die Möglichkeiten der Kameraführung immer weiter auszuloten. So wurde die Kamera bei den Dreharbeiten von "Zur Chronik von Grieshuus" auf Schienen montiert, um eine Treppe hinabzufahren. Für "Faust" wurde sie von Carl Hoffmann auf eine kurvenreiche Berg- und Talbahn gesetzt, um den Flug des Mephisto in Szene zu setzen. Um Erschütterungen abzufangen, wurden für "Metropolis" Reifen an den Kamerawagen angebracht; für "Ein Walzertraum" wurde der Wagen so weit ausgebaut und luftgepolstert, dass darauf neben Kameramann und Regisseur auch Scheinwerfer mitfahren konnten. Schließlich konstruierte Carl Drews ein Dreirad für die Kamera, mit dem sie sich in jede beliebige Richtung und in jedem gewünschten Winkel bewegen konnte.

Vor diesem Hintergrund einer sich weiterentwickelnden, wortlosen "Sprache" des Films – seiner ganz eigenen Erzähl- und Ereignispolitik – wird nachvollziehbar, warum viele Filmschaffende mit Sorge und Skepsis reagierten, als mit dem Tonfilm das Wort Ende der 1920er Jahre erneut Einzug in die Kinos hielt. Von vielen wurde der Tonfilm als Rückschritt angesehen. Da die Kamera zu dieser Zeit noch recht laut drehte, musste sie für die Tonfilm-Aufnahmen schallgedämmt werden und fand so vorübergehend neue "Fesseln": eingesperrt in Glaskästen oder verborgen unter Wolldecken.