Fräulein Else

Deutschland 1928/1929 Spielfilm

Fräulein Else



Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung (Stadt-Blatt), 14.4.1929


Schnitzlers bedeutende Novelle "Fräulein Else" hat die Unterlage für diesen Film abgegeben. Freilich, Paul Czinner hat nur Motive der Dichtung benutzt. Hätte er sich doch genauer an den Text gehalten, statt die Handlung mehr oder weniger frei zu übernehmen! Die Novelle nämlich ist ein einziger innerer Monolog, und die Gestaltung des inneren Monologs wäre auch im Film von größter Wirkung gewesen. Alles erscheint bei Schnitzler von Fräulein Else aus gesehen: Vater, Mutter, die Freunde, das Hotel und der Mann, um dessentwillen sie sich vergiftet. In den Schleier ihrer einsamen Assoziationen sind die Figuren gewirkt, vergrößern sich ihr, bringen Gefahr. Weder Menschen noch Gegenstände treten in der Novelle auf, wie sie sind, sondern ragen nur stückweise in die Erzählung hinein, so stückweise, wie sie dem Geist des Mädchens sich bieten. Die Psychologie wird hier von Schnitzler zu Ende gebracht; sie löst die Dinge auf und führt sich derart selbst ad absurdum…

Czinner hat die Möglichkeit nicht gesehen oder nicht sehen wollen, die sich aus der Vorlage für den Film ergab. Statt die Handlung aus der Perspektive Fräulein Elses aufzubauen, hat er einen normalen Gesellschaftsfilm gedreht, in dem auch Fräulein Else vorkommt. Damit verliert aber das Geschehen seinen Sinn, und es bleibt eine ziemlich schale Verkettung von Ereignissen übrig, die eines großen Aufwands nicht bedurft hätte. Zudem hat Czinner alles getan, um die Bedingungen vergessen zu machen, unter denen Fräulein Else bei Schnitzler steht und aus denen allein ihr Handeln begreiflich wird. Er zeigt sie nicht etwa als ein Mädchen, dem das Gemisch von Unschuld und Reflexion zuzutrauen wäre, sondern setzt sie mitten in die sportfrohe Nachkriegswelt hinein. Kein heute in St. Moritz betriebener Sport wird uns unterschlagen, und Fräulein Else ist überall mit einer unbedenklichen Jugendlichkeit dabei, die zu ihrem Urbild so wenig wie zu ihrem späteren Verhalten paßt.



Aus der verkehrten Regie-Einstellung schreiben sich die übrigen Fehler Czinners her: Da er die Assoziationen Fräulein Elses unbenutzt läßt, gerät ihm die Handlung zu mager. Was tut er also ? Er füllt sie einfach mechanisch auf. Wir sind die unfreiwilligen Zeugen der ganzen Bahnfahrt von Wien nach St. Moritz und werden mit wenig erwünschter Ausführlichkeit in das Leben und Treiben im Luxushotel verwickelt. Das alles ist überflüssig, wenn es auch routiniert gemacht ist. Zudem besteht es völlig aus sich, während es doch nur von dem Mädchen aus Leben haben sollte.

Elisabeth Bergner hat es bei dieser Regie schwer, das Fräulein Else faßlich zu machen. Wie immer bringt sie ihre wesenhafte Erscheinung mit, die etwas besagt, ehe sie sich noch ausdrückt. Das eigentliche Spiel dagegen ist nur an einigen Stellen stark. So, wenn sie, erschreckt über die an sie gerichtete Zumutung, den Kopf gegen das Spiegelglas drückt. Und vor allem ganz am Schluß, wenn sie im Pelz durch die Hotelhalle wandelt – Scham und Todesangst zeichnen Gesicht und Figur. Aber auf lange Strecken hin bleibt doch die Mimik leer. In der schwierigen Unterredung mit ihrem Peiniger weiß sie nichts anderes zu tun, als in einem fort das Taschentuch zu zerknüllen, und als Signale der Heiterkeit verwendet sie hauptsächlich die herabhängende Haartolle und ein aufregendes Benehmen. Von innen kommt ihr nur wenig, wie auch die aufgesetzten Tränen deutlich beweisen.

Ihre Partner sind: Albert Bassermann, dessen Können stets bewundernswert ist; Adele Sandrock, die eine Chargenrolle mit der bei ihr gewohnten Dichtigkeit ausfüllt; der anstellige Jack Trevor; schließlich der tote Albert Steinrück, der auf der Leinwand mit mehr Macht und Wirklichkeit dahinwandelt als die meisten Überlebenden. Dieses außerordentlichen Ensembles wegen lohnt es sich unter allen Umständen, den Film zu sehen.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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