Dealer
Dealer
Horst Peter Koll, film-dienst, Nr. 9, 06.03.1999
Emotionslos und sachlich erläutert Can zu Beginn aus dem Off, wie er allmorgendlich sein Tagwerk beginnt und zur Arbeit geht. Doch was Normalität und Alltagsroutine suggeriert, ist in mehrfacher Hinsicht trügerisch: Zunächst erkennt man schnell, daß Cans Erzählerstimme die Filmbilder rückblickend kommentiert, also das, was der Zuschauer sieht, bereits der Vergangenheit angehört; die Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Cans Wunschdenken und seinem offensichtlich verlorenen Gefühl für die Realität wird danach nicht minder schnell deutlich, wenn man erfährt, daß der junge Türke seinem Tagewerk als Kleindealer in einem exakt definierten „Revier“ in Berlin-Schöneberg nachgeht. Noch lange bleibt einem die erste Einstellung im Gedächtnis: Can, seine hübsche Geliebte Jale und ihre gemeinsame Tochter liegen zu früher Morgenstunde gemeinsam im Bett, Frau und Kind schlafen, während Can starr zur Zimmerdecke und dann aus dem Fenster blickt – so nah und doch so fern. Diese eigentümliche „träumerische Wachheit“ wird der in seinem Wesen sanfte, introvertierte Can den ganzen Film über nie ablegen; stets scheint er sich seiner kriminellen Aktivitäten bewußt, wie weitere Off-Kommentierungen verdeutlichen, und doch hat er die Dinge eigentlich nie selbst in der Hand, wird fremdbestimmt und erliegt seinen Illusionen vom möglichen Aus- und Aufstieg. Can arbeitet für Hakkan. Für ihn kontrolliert er die Jungs auf der Straße, organisiert den sicheren Ablauf der Drogengeschäfte. Aber Hakkan ist nicht der Freund, den Can in ihm sieht: Als Can vorsichtig aufmuckt und seine bisherigen „Verdienste“ geltend macht, vertröstet ihn Hakkan, daß er demnächst die Geschäftsführung einer Bar übernehmen könne. Can schwelgt in neuer Hoffnung, Jale aber wäscht ihm den Kopf – ohne Erfolg. Der Alltag verläuft weiter wie gehabt, Can „funktioniert“ ohne eigene Initiative, Veränderungen werden von außen an ihn herangetragen: Jale verläßt ihn mit der Tochter, Hakan wird auf offener Straße erschossen. Jetzt erst scheint Can aufzuwachen, übernimmt eine geregelte Arbeit in einer Restaurantküche. Doch das (wenige) „ordentlich“ verdiente Geld schaut er befremdet und ratlos an, empfindet die neue Arbeit fast als Demütigung. Zurück beim Dealen auf der Straße wird er bei einer Razzia verhaftet. Jale besucht ihn im Gefängnis, nimmt, wohl endgültig, Abschied, denn Can droht die Abschiebung. Zum Schluß hält die Kamera noch einmal die nunmehr leeren Schauplätze fest: ein Park im sommerlichen Licht, einen Hinterhof, die glatten Betonwände kalter Wohnsilos, „verziert“ allenfalls durch kunstlose Graffities. „Seltsam, wie sich alles verändert“, kommentiert Cans Off-Stimme.
Die Wirkung dieses letztes Satzes ist schwer in Worte zu fassen: Fast möchte man verbittert auflachen, weil dieser so wirklichkeitsferne Träumer selbst jetzt noch nicht aufzuwachen scheint, immerhin aber zum ersten Mal einigermaßen „realistisch“ auf seine Situation reagiert. Zugleich mischen sich Trauer und Mitleid in die Gefühle gegenüber diesem im Grunde sympathischen jungen Mann, der jenseits seiner Sprachlosigkeit und Handlungsunfähigkeit sensibel und einfühlsam zu sein vermag und im Verhalten gegenüber seiner Tochter große Fürsorglichkeit zu erkennen gibt. Immer wieder findet Thomas Arslan ausdrucksstarke Sinnbilder für den Geisteszustand seiner Hauptfigur: Wenn Can nachts die Töne, Lichter und Bewegungen der Großstadt regelrecht in sich aufsaugt, umkreist ihn die Kamera, um jenen Trancezustand herauszustellen, in dem sich Can befindet; und wenn er mit seiner Tochter im Zoo das Aquarium besucht, blicken die beiden fasziniert auf die ebenso friedlichen wie anmutigen Bewegungen von Quallen, gleichsam einem Urzustand des Daseins hinterherhorchend. Arslan geht es dementsprechend auch weniger um die realistische Bestandsaufnahme eines sozialen Milieus, und ebenso wenig spielt es letztlich eine Rolle, daß in der vorgeführten Welt der (Klein-)Kriminellen überwiegend Ausländer agieren. Wie bereits in „Geschwister“ (1996) – dem ersten Film einer Trilogie, zu der „Dealer“ das Mittelstück bildet – vermeidet Arslan jegliche vorgestanzte Denkmuster von einer an Nationalitäten festzumachenden Trennung der Kulturen, verweist vielmehr nachhaltig auf den gemeinsamen Fundus von Sorgen, Problemen, Sehnsüchten und Empfindungen seiner jungen Protagonisten in einer eisigen (Um-)Welt, die nur noch kälter erscheint, wenn die Kamera sie in den hellen, klaren Farben und Konturen eines urbanen Sommers einfängt. „Dealer“ ist demzufolge auch keine realistische, sondern eher eine existentialistische Geschichte, die nur mittelbar von sozialen Konflikten und deren Brennpunkten handelt. Arslan schuf einen undramatischen Film über die Lähmung, die allmählich und unaufhaltsam einen Menschen ergreift, dem alle Bindungen verloren gehen und der in dem Maße vereinsamt, wie seine großen Ziele verschwinden. Daß dieser seelische Zustand einer großen Verwirrung wiederum eng mit einer gesellschaftlichen Befindlichkeit zusammenhängt, ist naheliegend: Für Arslan ist Cans Zustand zu Recht auch der „Ausdruck eines Gespürs für die Krankheit der ihn umgebenden Wirklichkeit“.