Berlin. Die Sinfonie der Großstadt

Deutschland 1927 Dokumentarfilm

Wir schaffens

Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung, Nr. 856, 17.11.1927

Dieser Film "Berlin" ist eine schlimme Enttäuschung. Gewiß, er setzt sich aus Photographien zusammen, die zum Teil ausgezeichnet sind, weil sie quere Perspektiven nehmen und merkwürdige Details auf die Platte bringen, Häuser von unten, Rinnsteine, aus dem Backofen wackelnde Brote. Gewiß, er enthält geschickte Überblendungen und leitet mitunter (nicht immer) nach streng optischen Gesichtspunkten einen Gegenstand in den anderen über. Technisch einwandfrei und nicht ohne Bildphantasie: aber ist das Berlin?

Noch nicht einmal das Berlin steckt in dem Film, dessen ein fixer Chronikeur gewahr werden könnte. Das Berlin, das außer dem Potsdamer Platz auch noch den Alexanderplatz und den Molkenmarkt umfaßt, das auf die Vorstädte übergreift, große Haine birgt, sich zum Wannsee hinauszieht. Das Berlin der Arbeiter, der Angestellten, der Geschäftsinhaber, der höheren Bourgeoisie, das je nach der Berufsart und Menschenkategorie einen bestimmten Radius besitzt, bestimmte Ausschnitte aufweist. Das nach Tageszeiten geordnete Berlin, überhaupt das Berlin, das, von innen gesehen, doch über eine gewisse Struktur verfügt, die ihm Festigkeit verleiht. Noch nicht einmal Berlin, wie es sich einem bescheidenen, anständigen Beobachter darstellt, ist ergriffen.

Warum nicht? Weil die Herren nicht den kleinen Ehrgeiz hatten, eine Großstadt zu zeigen, wie sie wirklich ist, sondern den ungemessenen Ehrgeiz, gleich eine "Sinfonie der Großstadt" zu komponieren. Sie sind schlechte Komponisten gewesen. Ehe sie etwas sahen, hatten sie schon Ideen; abgeleierte Literatenideen. Berlin: das ist ihnen die Stadt, in der das Tempo an sich und die Arbeit ihre Orgien feiern. Das Ludendorff-Wort: "Wir schaffens" ist ihre Devise gewesen. Hei, wie geschafft wird, wie die Bildstreifen durcheinander rasen, damit nur jeder Provinzler – und viele Berliner gehören zu dieser Sorte Provinzler – sich an der Raserei berausche, an der Konfusion, den Gegensätzen, den Maschinenteilen, den Autobussen, die immer wieder einmal auf dem Potsdamerplatz sich kreuzen, den gymnastischen Schutzleuten, an dem ganzen blöden Getriebe, das zum Glück nicht Berlin selbst ist, sondern nur eine Summe verworrener Vorstellungen, die Literatengehirne über eine Großstadt ausgebrütet haben, wie sie nach ihren Begriffen sein soll. Diese Gehirne wissen nichts Besseres, als sich an dem sinnlosen Beisammen von Glanz und Elend, von Rechts und Links zu entzücken, weil eben der Sinn ihrer erdachten Großstadt darin besteht, die Kontraste ungelöst in sich einzuschlucken, sie lassen den Beerdigungswagen hinter den rollenden Trambahnen herfahren, weil sie meinen, im Tod sei doch alles egal und das Leben gehe im übrigen weiter: kurz, sie wissen nie und nirgends, worauf es in Wirklichkeit ankommt.

Darum wirkt auch kein Detail in dieser "Sinfonie" als Symbol. Während etwa in den großen russischen Filmen Säulen, Häuser, Plätze in ihrer menschlichen Bedeutung unerhört scharf klargestellt werden, reihen sich hier Fetzen aneinander, von denen keiner errät, warum sie eigentlich vorhanden sind. Ist das Berlin? Nein, das ist ein schauderhafter Abdruck, von einer gewissen Geistigkeit produziert, die mehr als peinlich ist. Wir schaffens? Wir haben es so schon einmal nicht geschafft.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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