Eine Saison in Hakkari

Türkei BR Deutschland 1982/1983 Spielfilm

Eine Saison in Hakkari


Leo Schönecker, film-dienst, Nr.2, 24.01.1984

Bislang sind nur wenige türkische Filme bekannt. Die besten fallen auf wegen ihrer besonderen poetischen Realistik, einer dokumentarischen, melancholisch-herben Lyrik, ihrer schlichten sozialpsychischen, sehr persönlichen Betrachtungsweise. Klagende Thematik haben sie gemeinsam: von unwegsamen, landschaftlich und politisch versperrten Verhältnissen, von Armut und elementarer Bildungsnot, erschreckender Rückständigkeit, von Fremdheit und Selbstentfremdung, von Schmerz und fatalistischer Ergebenheit, gegen die stolze, unbeugsame Menschenwürde des einzelnen trotz mancher Resignation und Gleichgültigkeit sich erhebt. „Die Herde“ (fd 22 228), „Der Feind“ (fd 23 516), „Yol“ (fd 23 758) und nun dieser bewegende Film von Erden Kiral – man muß sie erlebt haben, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie unerhört Zivilisation und Kultur noch auseinanderklaffen, wie wenig im Grunde unsere Komfort-Kultur wert sein kann, solange noch unter Bedingungen, die Kirals Film aus Nord-Anatolien vermittelt, Menschen hinvegetieren, mit kranken Hälsen und dicken Bäuchen zur Welt kommen und fern von medizinischer Hilfe sterben, bevor sie eigentlich gelebt haben.

Eine beispielhafte, zugleich symbolische Geschichte: Das Dorf Yonkali, für europäische Verhältnisse eine fast „steinzeitliche“ Ansiedlung von fensterlosen Geröllhütten, liegt am Abhang des Hochgebirges nahe der iranischen Grenze, ohne Strom, Leitungswasser, geregelte Abflüsse oder gar Telefon; nicht eine winzige Straße führt hin. Notdürftiges befördert der Maulesel, Todkranke werden in Tücher verpackt mit Schlitten zu Tal gelassen; Hunde hält man, um die Siedlungen gegen die Wölfe zu schützen. In diesen Verbannungsort kommt ein Lehrer aus Istanbul; die Kinder, die auch im Winter barfuß laufen, sind ohne Schreibzeug und Bücher; im Freien lernen sie die ihnen bekannten Wörter in den Schnee schreiben: Hund, Berg, Schnee, Polizist, Sonne. Der Lehrer zeigt, wie sich die Erde um die Sonne dreht. Nachts, wenn der Mond so hell scheint wie die Sonne und das Jaulen des eisigen Windes keinen Schlaf läßt, erwacht ihm Sinn für dieses verlassene Dasein; er sucht und entdeckt in sich einen anderen Menschen; so lernt er diese fremden Menschen in ihrer andersartigen, unbewußteren Einsamkeit lieben. Als er sie verlassen soll, ist ihm klar, daß er ihnen auch nur ein Fremder sein konnte. Auch Nähe, Angst, Miterleben, Mitleid, Verbundensein ist relativ, wie das Wissen von der Wahrheit ihrer Existenz. „Vergeßt alle Wörter! Später werdet Ihr lernen!“ Unbedingt ablassen müsse man von dem Glauben, daß dieses zugestandene Leben, daß „dies alles Schicksal“ sei.

Der Blick fällt – meist sprachlos – auf Moral und Gesetz einer Kultur und Gesellschaft, die nicht als schutzloses Reservat von unschuldiger Tradition, Aberglaube und Willkür anzusehen ist. Noch nicht kann der Lehrer verhindern, daß der Dorfvorsteher gegen den seelischen Widerstand seiner Familie den Einzug einer Nebenfrau feiert. Ein zweites – ungleich fröhlicheres – Fest beschließt den sehnsüchtigen Film: die Schneeschmelze und das Feuer.

Mit seiner stillen, menschlichen Wärme übertrifft Kiral vergleichbare Filmkunst von Eisenstein und Flaherty, auch Bunuels beißenden Report vom Nullpunkt der Kultur, aus den unfruchtbaren „Gärten“ (den „Hurdes“) Andalusiens, wo die Kamera als Waffe erscheint und Musik den Gegensatz zur Ohnmacht verzerrt. In Hakkari läßt bestechende Fotografie extreme Schönheit und Gewalt der Natur erkennen wie ein Sinnbild für die Aufgabe des Menschen. Deshalb ist dieser Film, wie alle wahre Kunst, die keine Wissenschaft und kein Programm ersetzen kann, humanitäre Propaganda im besten idealen Sinne.

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