Die Straße

Deutschland 1923 Spielfilm

Ein Film


Siegfried Kracauer, Frankfurter Zeitung, Nr. 93, 4.2.1924


Der Film "Die Straße", der jetzt auch in Frankfurt vorgeführt wird, ist eines der wenigen Werke moderner Filmregie, in denen ein Gegenstand Gestaltung erfährt, den nur der Film so gestalten kann, und Möglichkeiten verwirklicht werden, die nur für ihn überhaupt Möglichkeiten sind. Das Herstellungsverfahren des Films deutet schon auf das Gegenüber hin, dem er zubestimmt ist. Aufnahme stückt er an Aufnahme und setzt aus ihnen, die hintereinander abwirbeln, mechanisch die Welt zusammen – eine stumme Welt, in der kein Wort vom Menschen zum Menschen geht, sondern die unvollkommene Rede optischer Eindrücke Alleinsprache ist. Je mehr das Dargestellte sich wiedergeben läßt in der Folge bloßer Bilder, dem Zusammen gleichzeitiger Impressionen, umso mehr entspricht es seiner Assoziationstechnik. Was also wäre ihm enger verwandt als ein Leben, das sich rein in äußerlichen Begebenheiten erschöpft? Ein der Substanz beraubtes Leben, leer wie eine Blechbüchse, das statt des innerlichen Zusammenhangs nur noch punktuelle Ereignisse kennt, die kaleidoskopartig zu immer neuen Bilderserien sich fügen? Allein die Oberfläche ist ihm zugekehrt, und in dem Treiben existenzloser Larven, dem Durcheinander des Atomgemenges, findet er ganz sich selber wieder.

Die Großstadtstraße ist charakteristischer Schauplatz solchen scheinhaften Lebens. Menschen durchkreuzen sie, wie der Zufall es will, streifen einander und entfernen sich ohne Gruß. Keine Begegnung der Seelen hat statt, keine sinnvolle, dauernde Verknüpfung umklammert und bindet, nichts Tragisches zwischen ihnen geschieht, das ja zu seiner Voraussetzung eine konkrete Beziehung und in ihr gegründete wirkliche Entscheidungen hätte – nur Figuren stoßen zusammen, Ereignisse tragen sich zu und Situation reiht sich blind an Situation; das alles ohne Kontinuität und Folge, ein gespenstisches, unwirkliches Beisammen unwirklicher Menschen, das die leer fließende Zeit nicht zu erfüllen vermag. Der in die zerstückelte Welt versetzte Einzelne, der etwa ein Bewußtsein von sich selber hat, ist in ihr einsam schlechthin. Für Augenblicke nur kann seine Seele sich behaupten und dadurch, daß sie ihr Eigensein fühlt, die Scheinhaftigkeit des Hastens um sie her enthüllen. Dieses Auftreffen der zermürbten Seele auf die entleerte Welt hat, als erster vielleicht, E. A. Poe in seiner Novelle "Der Mann in der Menge" exemplarisch gestaltet. Innerlichkeit, die kein Echo findet, die ohne Antwort verwehen muß, weil niemand um ihre Frage mehr weiß, ist auch der immer wiederkehrende Vorwurf von Georg Kaisers Dramatik.

Die Filmkomposition selber, eine Regieschöpfung Karl Grunes, bestätigt lautlos und schauerlich das Leiden der verschmachtenden Seele in dem existenzleeren Geschiebe. Der Augenblick, der lediglich Punkt in der Zeit ist, wird in ihr Sichtbarkeit, Typen, die ganz entwirklicht sind, bewegen sich in ihr schemenhaft durch die zerfetzte Welt. Was den einsamen Wanderer in den gefräßigen Nachtstraßen bedrängt, drückt der Film in taumelnder Abfolge futuristischer Bilder aus, und er darf es so ausdrücken, weil das sich verzehrende Innere nur noch fragmentarische Vorstellungen entläßt. Die Begebenheiten verstricken sich und entknoten sich wieder, und da die Menschen erstorben sind, beteiligen sich auch die unbelebten Dinge wie selbstverständlich am Spiel. Kalkmauern künden von Mord, Lichtreklame zuckt auf wie flackerndes Auge: das Ganze ein wirres Nebeneinander, ein Tohuwabohu verdinglichter Seelen und scheinwacher Dinge. Vorsehung in dem Getümmel ist die Polizei, die das bloße Außen umgreift, wirklich in ihm allein das Kind, das nicht weiß, daß es ist. Der Film schließt, wie er begonnen hat; nächtlicher Spuk zerstiebt am nüchternen Morgen, und mag das Geschehene auch gewesen sein, so fehlt ihm doch der Bestand, der es zum Seienden macht. Zu sagen bleibt noch, daß die schauspielerischen Leistungen vollendet sind und Blick und Gebärden die zerfallene Welt beherrschen, die das bindende Wort von sich stößt.

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. Kleine Schriften zum Film. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl. 3 Teilbände. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte vorbehalten. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

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