Kinderspiele

Deutschland 1991/1992 Spielfilm

Sie küssten und sie schlugen ihn



Norbert Grob, Die Zeit, 03.09.1993

Szenen einer Jugend, irgendwann Ende der fünfziger, oder Anfang der sechziger Jahre: eine Welt des Zwiespalts, eine Zeit der Kriege – nach mehreren Seiten. Und zu Hause das grausamste Gefecht: Liebe und Hass, Lob und Prügel, Zuckerbrot und Peitsche. Sie küssen und sie schlagen ihn.

Micha, zehn, elf Jahre alt, wird von seiner Lehrerin mit Lob in den Sommer entlassen, er hofft, aufs Gymnasium zu wechseln. So kommt er voller Stolz nach Hause. Sein Zeugnis ist das beste seiner Klasse. Seinen Vater allerdings interessiert anderes: "Warum hast du Oma auf dem Klo sitzen lassen?" Woraufhin, ohne dass die Antwort von Belang wäre, Schreie und Schläge folgen, Schreie und Schläge, wieder und wieder. Der Ausweg danach: "Morgen sind die Briketts sauber gestapelt!" Das wird der Vater dann mit der Wasserwaage nachmessen.

Szenen einer Jugend, dazu gehören auch Träume und Spielereien. Vormittags die Schule, nachmittags die ganze Welt, irgendwo draußen. In einer schmuddeligen Werkhalle herumstreunen, die zu betreten verboten ist. Mit dem scharfen Dolch den eigenen Mut proben. Zweideutigen Witzen lauschen und nachsinnen. Die Großmutter verulken. Mit der blonden Schulfreundin im nahen Baggersee schwimmen gehen. Den kleinen Bruder ärgern und quälen. Der Schwester des Freundes unter die Bluse lugen. Und in der Badewanne in jeder Seifenblase des Schaums ein eigenes Universum vermuten. Kinderspiele. Kinderspiele?

Wolfgang Becker ist ein poetischer Realist. Er spürt dem einzelnen nach, der authentischen Reminiszenz, ohne zu glauben, dass dies schon das Ganze wäre. Dokumentarisches ist ihm bloß ein Element, von dem aus er sein eigentliches Ziel entwickelt – die große Klage über die kleinen Desaster. Die Exaktheit der Details geht ihm über die Wahrscheinlichkeit des Entwurfs: die Dinge so zeigen zu können, wie sie sind, "in ihrer ganzen und aufregenden Genauigkeit". Der präzise Blick auf die Figuren – und das Lyrische, das über Zwischentöne sich ergibt. "Sag ja nicht, meine Oma stinkt!" beschwert Kalli, Michas bester Freund, sich einmal. Dessen Antwort: "Ich hab" doch nur gesagt, sie riecht!"

Becker zeichnet die übermütigen Späße als idyllische Vorderseite eines überharten, oft brutalen Kinderalltags. So skizziert er das Dilemma, dem die Jungen ausgesetzt sind. Sie reden und träumen sich weg von ihren Ängsten und finden sich doch nur vor als Opfer. Sie erhoffen das Äußerste und finden doch nur das Traurigste. Mit der Taschenlampe in der Hand rennt Micha einmal in den Garten seines Elternhauses, nachdem die Mutter die Familie verlassen hat, und richtet den Strahl ins All: "Hallo, hallo, ich bin Micha! Hört mich jemand? Meine Mutter ist weggegangen!"


Szenen vom Krieg der Knöpfe: wo gegenüber den kleinen Freuden die große Trübsal im Familiären dominiert. Micha und seine Erniedrigungen: von der eigenen Mutter vernachlässigt und missachtet; mit der Großmutter, die sich kaum noch zu bewegen vermag, in ständigem Ärger; zum kleinen Bruder, der von der Mutter mehr beachtet und geliebt wird, in neidischer Konkurrenz; und vor den brutalen, gewalttätigen Angriffen des Vaters in unentwegter Angst.

Sehr berührend dabei, wie Becker die Zeichen der Zeiten setzt: wie etwa der Versuch, das ZDF und Eduard Zimmermanns "XY Ungelöst" ohne Schnee auf den Bildschirm zu kriegen, die damaligen Jahre beschwört und gleichzeitig – geradezu slapstickartig – die Gewalt in der Familie zeigt. Die Mutter durfte nur mit der Hausantenne hin und her wackeln, auf barsche Anweisungen hin. Micha rächt das später: indem er, ohne sich für die Schärfe des TV-Bildes zu interessieren, seinen Vater mit der Antenne in der Hand auf dem Dach hin und her hetzt.

Als seine Mutter dann weggeht, ihn und den Vater verlässt, wird Micha zum Mittler: zum Boten zwischen zwei Menschen, die ihm das Herz zerreißen. Zu ihr bringt er die Briefe des Vaters, zu ihm die Antworten der Mutter. Becker spitzt das Drama zu, indem er betont, wie sehr der Junge sich aufreibt: wie er zwar nur das Gute will (sogar die Briefe schreibt er um, wenn sie ihm nicht gefallen) – doch darüber nur das Üble schafft.

Becker bleibt ganz nah an seinen Figuren. Was seine Bilder gelegentlich sehr fernsehhaft und funktional wirken lässt (Kamera: Martin Kukula). Es ist, als suche er unentwegt den authentischen Moment. Deshalb nimmt er den Raum drum herum weg – auf dass darin nichts Falsches nachklinge. Deshalb organisiert er die Bilder im Rhythmus extrem monoton – auf dass dazwischen nichts Störendes aufkomme. Was in der Story (und über die Darsteller) wunderbar gelingt, bleibt so filmisch doch eher dröge und flach.

Und dann der Schluss: Was um Himmels willen hat Becker und seinen Drehbuchautor Horst J. Sczerba nur dazu bewegt, ihre behutsame, subtile Studie eines kaputten Kinderlebens zuzuspitzen auf einen dramatischen Endpunkt? Von der Schlusspointe her bekommt der Film eine dramaturgische Glätte: einen überdeutlichen Sinn, dem die brüchigen Episoden zuvor sich doch so strikt verweigern.


Vom Ende her lässt sich jede Story noch brechen und biegen – das zu betonen, wurden Hollywoods Dramaturgen in den frühen vierziger Jahren nicht müde. Für sie war das der Trick, doch noch zu glätten, was die phantasievolleren Regisseure zuvor ausgereizt hatten. Aber gerade mit Hollywood, das ist ja das Aufregende dabei, hat Wolfgang Beckers kleiner, bewegter Film nichts zu tun.

© Norbert Grob

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