Freies Land

Deutschland (Ost) 1946 Spielfilm

Erinnerung an "Freies Land" (1946)


Fred Gehler, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 6, 1981


Bei aller angenommener Überschaubarkeit der Entwicklung unserer Kinematographie nach 1945/46, gibt es doch in der Frühphase Filme, die selbst bei Professionellen in Vergessenheit geraten sind. Sicher deckt auch der barmherzige Mantel des Schweigens manches inhaltlich und ästhetisch Mißratene zu, aber im Falle von "Freies Land" (Regie: Milo Harbich) ist ein solcher Mantel höchst absurd. Der nach "Die Mörder sind unter uns" (Regie: Wolfgang Staudte /15.10.1946) als zweiter uraufgeführte Film der DEFA (18.10.1946) ist für mich ein wahrhaft erstaunliches Werk. Wobei es nicht um eine neue Legendenbildung gehen kann, sondern um eine Rehabilitation. Um die gerechte Wertung eines in dieser Form einzigartigen Versuches, Zeitgeschichte zu bewältigen – unmittelbar, ungesichert durch Distanz, Erfahrung, auch komplexes Wissen. Soziale Prozesse fast noch im Moment ihres Werdens. Film als Chronik, als eine Art visuelles Tagebuch. (…)

Das Schicksal eines Dorfes und seiner Menschen, der Alteingesessenen und der Umsiedler. Hoffende und Verzweifelte, Zukunftsgläubige und Skeptiker. Eine dokumentare Kamera (Otto Baecker) hält fest: die zerstörten Bauerngehöfte, die Flüchtlingstrecks, Trümmer in den Städten, Hamsterfahrten, der schwarze Markt, eine Razzia der Polizei, Verhaftungen, ein Quarantänelager für Kriegsgefangene, das Lebuser Notstandsgebiet. Ein Sprechertext informiert, orientiert: "Über das Eis der Flüsse, über zerweichte und zerfahrene Landstraßen zogen Millionen Flüchtlinge in das Ungewisse … Von den kümmerlichen Resten ihrer Habe büßten sie bei den wochenlangen Irrfahrten noch vieles ein. Tausende gingen an Hunger, Erschöpfung zugrunde…" (…)


An anderen Stellen des Films interpretieren die "Sketchszenen" die Veränderungen im dörflichen Organismus: die Aufnahme einer Umsiedlerfamilie; Widersprüche Altbauern-Neubauern; die Rolle der gegenseitigen Bauernhilfe; die Reparatur- und Abgabesituation. Ganz zart treten Momente einer Individualhandlung in die Chronik ein, verbunden mit der Familie Jeruscheit oder dem Altbauern Melzig. Menschen lösen sich aus einem kollektiven Schicksal, aus einem dokumentierten sozialen oder historischen Prozeß, gehen selbständig ein paar Schritte, lassen Persönliches, intimes Erleben spüren. Dabei reichen Andeutungen, sparsamste Fabelelemente aus, die Geschichte eines Menschen zu ahnen, mit ihm zu fühlen. (…)

"Freies Land" ist ein Dokumentar-Film und ein Fiktions-Film. Beides geht hier zusammen, kommt zusammen. Der Film spricht zum einen mit der Welt, wie sie ist, zum anderen entwirft er ein Modell des Lebens, eines idealeren, doch ohne die Realität zu verbiegen. Soziale Aufmerksamkeit gegenüber dem, was ist: Hunger, Flüchtlingselend, wirtschaftliche Anarchie, Resignation. Kontrastierend dazu Bilder eines moralischen Impetus: Menschen sprechen von Hoffnungen, ein bißchen Traum, ein Stück ganz nahe Utopie. Die Realität ist dargestellt, als sei sie eine Geschichte. Und eben immer wieder das erstaunlichste Moment der Arbeit: die Offenheit für viele Erzählhaltungen, die Vielzahl der (behutsamen) Angebote und Entwürfe. Wurzeln und Traditionslinien werden transparent: Walther Ruttmann, Slatan Dudow, Alexander Granowsky. Ob "bewußt" oder "unbewußt"? – der Mutmaßung ist Tür und Tor geöffnet. (…)

"Freies Land" ist wohl die Entdeckung einer bestimmten historischen Stunde, ist der Reflex darauf. Das trifft auf das Zeitbewußtsein des Films zu, auf seinen Moralismus, aber noch mehr auf seine Erzählhaltung. Mitgeteilt werden klare Tatsachen, aufgespürt ihre menschliche, soziale und historische Bedeutung.

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