Geschwister - Kardeşler

Deutschland 1996/1997 Spielfilm

Geschwister – Karde?ler

Cruising Kreuzberg


Katja Nicodemus, TIP Magazin, Nr. 25, 1997

Sie essen kein Kebab, sondern Pizza, sie tragen keine Kopftücher, sondern Dreadlocks, sie denken nicht ans Heiraten, sondern an die nächste Party. Thomas Arslan heftet sich in seinem zweiten Spielfilm an die Fersen von Erol, Ahmed und Leyla. "Geschwister" ist ein Roadmovie ohne Autos und einer der besten Berlin-Filme der letzten Jahre.

Sie laufen und laufen. Gemeinsame Gänge als Ritual, Zeitvertreib, Freundschaftsversicherung. Inbesitznahme des Terrains zwischen Kottbusser Tor und Görlitzer Bahnhof. Die Straße ist das Wohnzimmer der Brüder Erol und Ahmed. Beim Laufen tragen sie alles aus: erste Liebe, Geldprobleme, Diskussionen über den Militärdienst in der Türkei, über die Schule, die Familie oder Pitbulls. "Geschwister" ist Cruising ohne Auto.

"Der Film spielt ja in ganz wenigen Straßen, die auch ganz bewußt immer wiederkehren", meint der Regisseur. "Damit einfach dieses doch recht kleine Umfeld, in dem sich die Geschwister und ihre Freunde so bewegen, Tag für Tag, möglichst präzise abgesteckt wird. Es ist wichtig, daß sie gerade über dieses Gehen dann auch den Raum miterzählen können." Thomas Arslan redet ziemlich leise. Und er ist völlig uneitel, wie er da in der Kreuzberger Kneipe sitzt, schüchtern und konzentriert in seinen Milchkaffee hineinspricht.

"Geschwister" ist der erste Film, der türkische Jugendliche aus ihrer eigenen Perspektive filmt. Keine Abhandlung über, sondern eine Folge von Alltagsszenen, Gesprächen, Streits und Versöhnungen. So direkt gefilmt, als stünde man als Zuschauer im gleichen Hofeingang, oder als würde man einfach neben den Figuren laufen, von den alteingesessenen Imbissen am Kotti über die Oranienstraße bis zur hundescheißegesäumten Görlitzer.

Erol, Ahmed und ihre jüngere Schwester Leyla wohnen noch bei den Eltern, der Vater ist Türke, die Mutter Deutsche. Erol hat die Schule abgebrochen, lungert und hehlt ein bißchen herum. Mit seiner nervösen Energie, seiner Ungeduld und Gereiztheit wirkt er wie ein eingesperrter Tiger. Ohne Berufs- und sonstige Perspektive flüchtet er sich in die türkischen Wurzeln, will zum Militärdienst in die Heimat des Vaters zurückkehren.


Ahmed besucht das Gymnasium, hat eine deutsche Freundin und mit der türkischen Clique des Bruders nicht viel am Hut. Ein cooler Musterknabe, der sein Leben schon irgendwie auf die Reihe kriegen wird.

Zwei Brüder, zwei Gangarten: Während der angespannte Erol mit seiner Lederjacke den Macho mimt, die Schultern beim Gehen wie ein Rapper hin- und herwirft, bewegt sich Ahmed gelassen und selbstsicher. Und wenn Ahmed abends im gemeinsamen Zimmer liest, starrt Erol auf Bruce-Lee-Videos, bis ihm die Augen zufallen.

Leyla, die Schwester, ist von allen beiden genervt, von den Eltern und von ihrer Lehre. Mit der schlagfertigen Göre wechselt "Geschwister" immer wieder in die Perspektive türkischer Mädchen. Gespräche über Jungs, die erste Verabredung, Schreiereien mit dem Vater, der die ewigen Übernachtungen bei der besten Freundin nicht mehr dulden will. "Bei anderen Filmen, wo es um dieses Thema ging, hat mich immer gestört, daß gerade den Mädchen so wenig Eigenleben zugestanden wird", meint Arslan. "Das waren in der Regel aufgeklebte Schemata, gepeinigte Opfer, denen das Kopftuch übergestülpt wird."

Wie die Geschwister im Film ist Thomas Arslan in einem deutsch-türkischen Haushalt aufgewachsen. Vor der Kamera macht er die unterschiedliche Herkunft der Eltern nicht zum großen Thema. Da steht die Diskussion über Erols Militärdienst in der Türkei gleichberechtigt neben dem abendlichen Riesenstreit über den besten Pizzabelag. Immer wieder vermittelt "Geschwister" Zustände, Stimmungen, Lebensphasen über solche banalen Dialoge. Dabei entsteht Komik aus den einfachsten Situationen, zum Beispiel wenn sich Erol und seine Kumpel über "Rocky" als Pitbullnamen in die Haare kriegen. Oder die Kinoverabredung zwischen der schlechtgelaunten Leyla und einem Anbeter zum Kunststück dialogischer Retardierung gerät.

Rituale wie die ständige Rotzerei oder der coole Handschlag zum Abschied verbinden sich mit einem Slang, den man ansonsten allenfalls nebenbei in der U-Bahn erlebt. "Wir sollten jetzt mal los" zum Beispiel wird zu "Mann ey, wir müssen mal endlich aus dem Arsch kommen!" Arslan lacht, schaut kurz auf und versenkt sich wieder in seine Tasse. "Ich hab" das natürlich nicht unter einem soziologischen Aspekt gesehen. Ich versuch" eben manches aufzuschnappen, wobei deren Alltagssprache eigentlich noch wesentlich durchsetzter ist von solchen Ausdrücken. Die Darsteller haben beim Drehen immer Vorschläge gemacht. Das ist eine Bereicherung, wenn man einen Spielraum läßt, damit sie die Situation dann an sich reißen können."


Tamer Yigit, Savas Yurderi und Serpil Turhan sind Kreuzberger Kids wie ihre Figuren. Den Musiker und Sänger Tamer sprach Arslan nach einem Konzert an. Dessen türkische Hardcore-Band Hasret, in der Szene schon Kult, entstand aus einer Jam-Session während der Dreharbeiten. Tamers bester Kumpel Savas erhielt die Rolle des Bruders. Über ein paar Kreuzberger Ecken schneite dann noch Serpil Turhan ins Team, gerade, als Arslan die Hoffnung auf eine geeignete Darstellerin der schnoddrigen Schwester aufgegeben halte.

Für die Art und Weise, wie Arslan mit diesem türkischen Trio den Mikrokosmos Kreuzberger Straßen zur Filmwelt und zur universalen Formel für Jugend macht, gibt es im deutschen Kino keinen Vergleich, eher schon in Frankreich. Die langen Einstellungen und die enge Arbeit mit den Teenies erinnern an Jacques Doillon, das ausschnitthaft aus dem Leben Gegriffene an Maurice Pialat. Mit Straub-Huillet verbindet Arslan die Begeisterung für den Originalton. Wenn Erol in einer Szene die Adalbertstraße entlanggeht, hat man das Gefühl, er werde vom Verkehrslärm förmlich aufgesogen. Vom Rattern der Nähmaschinen fast überdröhnt, wirft sich Leyla mit der Freundin am Arbeitsplatz hastige Dialogschnipsel zu.

"Im Grunde wollte ich da eine Einheit haben vom Geräusch, der Sprache und der Art und Weise, wie die sprechen. Das wollte ich dann im nachhinein nicht mehr modifizieren oder glätten. Da war es dann wichtig, daß man Kamera und Ton dem ausliefert, was man vorfindet, und das dann auch als Einheit behandelt."

Auch im Rhythmus respektiert Thomas Arslan diese Einheit. Und was dem Filmboard Berlin-Brandenburg eine so anspruchsvolle, für ein türkisches Publikum ungeeignete Form schien, daß es keine Verleihförderung bewilligte, entspricht doch nur der Haltung eines Regisseurs, dem genau bewußt ist, wie er sein Thema erzählt. Denn so konsequent sich Arslan mit langen Einstellungen dem terroristischen Schema Schnitt/Gegenschnitt entzieht, so einfach ist auch hier seine Begründung: "Die Sprache gibt ja eigentlich ein ziemliches Tempo vor, wenn die so miteinander reden. Und das sind Dinge, die ich nicht noch durch einen Schnitt akzentuieren oder trennen möchte."


Mit einem einzigen Schnitt hätten Erol und Ahmed ganz Kreuzberg durchqueren können. Statt dessen folgt Arslan ihnen mit der Handkamera von Straße zu Straße. Irgendwann ist man drin in der Bewegung, hat die Gangart und den Ghetto-Look der Geschwister verinnerlicht. "Ich finde, man sollte beim Filmen andere Rhythmen ausprobieren als die Mainstream-Geschwindigkeiten", sagt Arslan in die Cola hinein, die er inzwischen bestellt hat. "Ich bin da eher an Verlangsamungen interessiert. Die geben einem die Möglichkeit, sich "ner Sache zu nähern, die einen nicht so anspringt. Sondern der man sich als Zuschauer ein bißchen nähern muß. Und nicht umgekehrt eben."

Bereits in seinem ersten Spielfilm sind die einzelnen Einstellungen nicht Elemente einer Erzählung, sondern Funktionen eines Lebensgefühls. In "Mach die Musik leiser" (1994) nähert sich für eine Gruppe Schüler im Ruhrpott das Ende der Schulzeit. In Eiscafes, vor Tankstellen, auf Mauern und Geländern harren sie schweigend der Dinge, die da kommen mögen. Endzeitstimmung in Essen. Hin und wieder zieht einer an der Zigarette, nippt an der Cola oder bringt einen Dialog in Gang, der selten mehr als zwei Repliken währt: "Was habt ihr"n noch so vor?" - "Weiß nicht, noch "n bißchen sitzenbleiben, und du?" - "Mal seh"n." In stiller Übereinkunft dehnen die 16jährigen die letzten Tage der Freiheit zur ewigen Gegenwart, während am Horizont Arbeit, Bundeswehr und andere Katastrophen lauern. Ähnlich wie in "Geschwister" verdichten sich die einzelnen Szenen zu einem allgemeinen Zustand des Herumhängens, der vielleicht eher als die so oft beschworene Palette toller Lebensgefühle die Quintessenz von Jugend ist.

Der erste und der zweite Film, Darsteller, Dialoge, Kreuzberg, die filmische Form, die eigene Biografie - irgendwie fügt sich in Arslans Worten alles ganz einfach und logisch zusammen. Als sei es nichts Besonderes, in sechs Wochen mit minimalem Budget und einer Handvoll Laien "Geschwister", dieses Kunstwerk von einem Kreuzberg-Film, hinzulegen. Ob man einfach derart zurückhaltend und bescheiden sein muß, um so zu arbeiten? Man kann nur hoffen, daß Arslan nie so richtig klar wird, was er da eigentlich dreht. Er könnte sonst ziemlich eingebildet werden.

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