Leben nach dem Terror

Merten Worthmann über "Die innere Sicherheit"

Merten Worthmann, Die Zeit, 01.02.2001

Irgendwann kommt der Augenblick, in dem nur noch die Wahrheit weiterhilft. Die 15jährige Jeanne hat sich in Heinrich verliebt. Aber Heinrich traut ihr nicht, denn bisher hat Jeanne ihn immer wieder angelogen – darüber, was sie macht, woher sie auftaucht, wohin sie verschwindet mit ihren Eltern. Jetzt also, zum Beweis ihrer Liebe, bekennt sie: "Wir leben im Untergrund." Aber Heinrich versteht nicht und fragt nach: "Was für ein Untergrund?"

Jeanne und ihre Eltern Clara und Hans leben neben der Zeit. Die Vergangenheit diktiert ihnen den Umgang mit der Gegenwart. Die Eltern waren einmal: Terroristen. Das ist lange her. Nur noch wie ein fernes Echo hallt die Geschichte nach in Christian Petzolds Film "Die innere Sicherheit". Man muss von ihr wissen, um das Echo überhaupt vernehmen zu können. Die RAF wird kein einziges Mal erwähnt, Gespräche über Politik, ehemalige Ziele, Motive, Schuld oder Sühne finden nicht statt. Petzold weicht der Vergangenheitsbewältigung aus, weil es ihm um die Gegenwartsbewältigung geht: Wie offen darf man leben, wenn man versteckt leben muss? Wie kann man "im Untergrund" aufwachsen, und wann muss man ausbrechen? Jeanne ist 15 und will hinaus ins freie Leben. Das wird ihr verwehrt. Gerade hat jemand den Unterschlupf der Familie in Portugal ausgeraubt. Alles Geld ist weg, die falsche Identität in Gefahr. Die Familie muss zurück nach Deutschland. Dort hoffen Hans und Clara auf alte Weggefährten, um die lange geplante Flucht gen Brasilien doch noch finanziert zu bekommen. Das wird misslingen.

In der neu erworbenen Villa eines Ehemaligen wirkt das Desperado-Pärchen von damals so fehl am Platz wie "Die innere Sicherheit" in der gegenwärtigen Kontroverse um die linksradikale Vergangenheit grüner Minister. Natürlich versucht man beides zusammenzudenken. Es funktioniert aber nicht. Was die aktuelle Debatte bestimmt, die Befragung der Biografien, der zweifelnde Blick auf den Wandel im Geiste - das alles gleitet an Petzolds Film ab. Warum, das zeigt ein Blick auf die Details, die Film und Debatte angestoßen haben. Petzold wurde von einer Meldung berührt, die er 1993 nach der Schießerei in Bad Kleinen las. Dort hieß es, Wolfgang Grams, damals tödlich getroffen, habe in seinem Privatleben Marmelade eingekocht und Liebeslieder geschrieben. Diese Beobachtung zielt aufs Gegenteil dessen, worum es im Fall Fischer/Trittin geht. Während die momentane Debatte um die vermeintliche Nähe zweier, nun ja, Normalbürger zum Terror kreist, erforscht der Film die vermeintliche Nähe von Terroristen zur bürgerlichen Normalität. Diese Perspektive teilt Petzold mit Volker Schlöndorff, in dessen jüngstem Film es auch nicht mehr um die Zeit des Kampfes ging, sondern um "Die Stille nach dem Schuss" – den Versuch einer Aussteigerin, in der DDR ein normales Leben zu führen. Beide Regisseure inszenieren ihre Hauptfiguren nicht ohne Sympathie und verzichten auf Distanzierungs-Rhetorik. Diese Freiheit führt allerdings beide Male an die gleiche Grenze: den Tod. Petzold und Schlöndorff mögen ihre Protagonisten entdämonisieren; entkommen lassen sie sie nicht.
Abgerechnet wird zum Schluss – von der Polizei.

Mit der finalen Verfolgung in "Die innere Sicherheit" variiert Petzold eine frühere Szene aus seinem Film. Da sitzt die Familie im Auto, an einer Kreuzung vor der roten Ampel. Die Straßen sind leer. Aber nach und nach schieben sich aus jeder Richtung schwarze Limousinen auf die Kreuzung zu. Hans sieht sich umzingelt, steigt aus, nimmt die Hände hoch. Dann wechselt die Ampel auf Grün. Der Verkehr fließt wieder. Es war alles nur Einbildung. Die Familie fährt weiter, aber die Paranoia fährt immer mit. Für Hans und Clara scheint die Stille nach dem Schuss zugleich die Stille vor dem Schuss zu sein. Das macht die wundersame Gespanntheit von Petzolds Film aus. Seine Figuren wirken, als wären sie gleichzeitig ruhig und wie unter Strom gestellt, ein wenig auch wie Jarmuschs "Dead Man". Tote auf Urlaub. Gespenster, die ins Leben zurückkehren möchten. Aber es gelingt nicht mehr, aus der Outlaw-Rolle auszubrechen. Hans gräbt unter einer Brücke und auf einem Friedhof alte Geldverstecke aus. Die Scheine sind längst ungültig. Die Teilnahme an der Gegenwart bleibt weiter ausgeschlossen.
Der Apparat, dem die Familie zu entkommen versucht, hat die Familienstrukturen längst erreicht. Die Tochter steht von Anfang an unter Verdacht, ein "Leck" zu sein. Die Eltern verlangen mehr Disziplin und führen sich immer mehr als Fahnder auf. Als sie fragen: "Wo warst du so lange?", fragt Jeanne zurück: "Kann ich ein Glas Wasser haben?" Und dann schweigt sie, bis das Verhör beendet ist. Jeanne ist die eigentliche Hauptfigur des Films, ein Teenager, der kein Teenager sein darf, großartig dargestellt von Julia Hummer. Die Vorsicht ihrer Eltern hat sich ihrem Körper eingeprägt. Sie schaut oft wie aus Schießscharten. Es dauert, bis sie aus der Deckung kommt. Sie ringt auch um ihre innere Sicherheit und muss dabei zugleich die eigene Identität verleugnen. Als sie sich verliebt, gerät die Maskerade in Gefahr. Heinrich fragt: "Erzähl mir von dir. Hast du Geschwister? Was machst du nachts?" Das ist kein Verhör. Aber für Jeanne ist es wieder eins.

Christian Petzold geht mit dem Jugenddrama so zurückhaltend um wie mit dem Fluchtdrama. Er erzählt im Grunde eine doppelt unmögliche Liebesgeschichte. Jeanne zu zeugen, das war von Clara und Hans ein Akt der Unvernunft – und ein Akt der Liebe. Fünfzehn Jahre später kehrt diese Liebe in der Tochter zurück, und die Unvernunft wird sich rächen. Petzold meint das nicht moralisch. Er sieht einfach seiner Familie ohne Vergangenheit und Zukunft beim Zusammen- und beim Auseinanderzucken zu – in aller Ruhe, aus einigem Abstand, und mit Bildern, in deren leicht abgetöntem Leuchten die bedeckten Gefühle der Figuren widerscheinen.

Eine Szene gibt es dann doch, die eine Art Archäologie des Terrorismus enthält. Jeanne, die so gern ein ganz normales Mädchen wäre, schleicht sich einmal auf einen Schulhof und hinein in eine Klassenfilmvorführung. Es läuft "Nacht und Nebel", Alain Resnais" berühmter Dokumentarfilm über die Gräuel des Nationalsozialismus. Es sind Bilder aus den Lagern zu sehen, und der Kommentator fragt voller Pathos: "Wer wacht hier und warnt uns, wenn die nächsten Henker kommen?" Der Terrorismus hat diese Frage erst falsch verstanden und dann falsch beantwortet. Trotzdem war er auch eine Reaktion auf das Entsetzen, von dem "Nacht und Nebel" spricht. Petzold spart alles aus, was diese erste Ursache mit jener letzten Folge verbindet, von der "Die innere Sicherheit" erzählt. Er gesteht seinen unbehausten Eltern keine Wurzeln zu. Sie tauchen als Unbekannte auf aus einer verlorenen Zeit, die der Film ihnen nicht zurückgewinnt. Nur die Nachgeborene wird es bis in die neue Welt schaffen.

© Merten Worthmann

Rechtsstatus