Darsteller
Weimar

Nah am Rand und doch Mittendrin: Eine Würdigung der "Nebenrolle" 

DFF-Filmblog-Beitrag von Kai Mihm (filmportal.de), 24.09.2020
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Quelle: Port au Prince Pictures, DFF, © kineo Film, Weydemann Bros., Yunus Roy Imer
Gabriela Maria Schmeide, Helena Zengel (v.l.n.r.) in "Systemsprenger" (2019)

 

Machen wir ein kleines Quiz: Nennen Sie fünf deutsche Schauspieler*innen, die in den letzten zwei Jahren markante Nebenrollen gespielt haben. Gar nicht so einfach, oder? Ungewöhnlich sind solche Gedächtnislücken nicht, denn obwohl jede noch so kleine Produktion mindestens ein Dutzend Sprechrollen hat, bleiben selbst filminteressierten Zuschauer*innen meist nur die Hauptdarsteller*innen in Erinnerung. Man erinnert sich zwar oftmals noch sehr gut an zwei, drei weitere Figuren, die tolle Szenen hatten – zum Beispiel in "Systemsprenger" die sensible, idealistische Sozialarbeiterin, oder in "Lara" dieser rotzfreche Nachbarssohn und vermeintliche Drogendealer. Starke Auftritte. Aber: wer spielte das nochmal...? (Antwort: Gabriela Maria Schmeide und Edin Hasanović). 

Das war nicht immer so. Vor allem im deutschen Film der 1950er und 60er Jahren gab es eine Art Repertoire an Nebendarsteller*innen, deren Namen jeder kannte, weil sie in stets sehr ähnlichen Parts zu sehen waren, und das meist in mehreren Filmen pro Jahr. Als besonders markantes Beispiel sei hier Oskar Sima (1896-1969) genannt. Im deutschen Film der Nachkriegszeit gab es kaum einen Unterhaltungsfilm, in dem der eindrückliche Schauspieler nicht zu sehen war. Allein 1955 wirkte er in 13 Produktionen mit, von einem zeitgenössischen Kritiker wurde er damals "König der Nebenrollen" genannt. Meist spielte der Charakterkomiker den Part des subalternen Kleinbürgers oder des cholerischen Schlaubergers, der mit List, Tücke und Zigarre in der Hand seinen Vorteil sucht: zum Beispiel als übereifriger Leibwächter des Zaren in "Der Kongreß tanzt" oder als Provinz-Bürgermeister in "So liebt und küßt man in Tirol". 

Oskar Sima in "...und die Liebe lacht dazu" (1957): Szene auf YouTube

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem wunderbaren Hubert von Meyerinck (1896-1971), dessen Filmografie über 250 Titel umfasst, und der in den 1950er Jahren bis zu einem Dutzend Filme pro Jahr drehte. Mit zunehmendem Alter karikierte "Hubsi", wie er von seinen Fans liebevoll genannt wurde, häufig sein einstiges Image als distinguierter Gentleman und strenger Würdenträger, so etwa als autoritärer Bürochef in "Ein Mann geht durch die Wand" oder als Graf von und zu Droste-Schattenburg in Billy Wilders Satire "Eins, zwei, drei". 

Hubert von Meyerinck in "Das Wirtshaus im Spessart (1957): Szene auf YouTube

Gerade diese Festlegung auf bestimmte Typen, kombiniert mit einer gefühlten Leinwand-Dauerpräsenz, verliehen Darstellern wie Sima und Meyerinck einen enormen Wiedererkennungswert. Obwohl sie praktisch nie Hauptrollen bekamen, waren sie oft die heimlichen Stars. Damit kann man sie als frühe Versionen dessen betrachten, was man in Hollywood "scene stealer" nennt: Schauspieler*innen mit einer so markanten Wirkung, dass sie den eigentlichen Stars die Schau stehlen. Beim Deutschen Filmpreis 1968 wurde Hubert von Meyerinck denn nicht für eine spezielle Rolle geehrt, sondern mit einem Ehrenpreis für sein "langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film". 

Dieser Typus Darsteller*in ist heute seltener geworden. Kaum ein*e Schauspieler*in will sich mehr festlegen lassen, und auch die Grenzen zwischen Haupt- und Nebendarsteller*innen sind längst nicht mehr so streng gezogen. Die oben genannten Hasanović und Schmeide etwa kann man ja keineswegs als reine "Nebendarsteller*innen" bezeichnen; auch Stars wie Katja Riemann oder Jürgen Vogel sind sich nicht zu schade, mal die zweite Geige zu spielen. Umgekehrt ebnen kleine Rollen nicht selten den Weg zur großen Karriere. Man erinnere sich, dass Elyas M'Barek in prominenten Produktionen wie "Die Welle" und "Männerherzen" lediglich Nebenrollen spielte – nicht selten war er da ein "scene stealer", der sich Szene für Szene ins Bewusstsein des Publikums stahl. 

Trotzdem gibt es sie natürlich noch, die Darsteller*innen, die zwar auch Hauptrollen spielen, vor allem aber sehr viele Filme mit ihrer Präsenz vor allem in Nebenrollen adeln. Zum Beispiel Marie Lou Sellem, die allein 2017 in so unterschiedlichen Filmen wie "Casting", "Nur Gott kann mich richten" und "LOMO: The Language of Many Others" bleibende Eindrücke hinterließ. Oder Rainer Bock, der zuletzt in "Exil" eine Glanzleistung als mobbender (und gemobbter) Manager ablieferte. Auch Victoria Trauttmansdorff gehört zu dieser Riege, sei es als Heilsarmistin in "Der goldene Handschuh", als Pflegemutter in "Systemsprenger" und aktuell in "Und morgen die ganze Welt" als bürgerliche Mutter einer Antifa-Kämpferin. Ein "scene stealer" par excellence ist der Österreicher Georg Friedrich, sei es als jovialer Saloon-Wirt in "Winnetou", als schmieriger Ganove in "Asphaltgorillas" oder als mittelalterlicher Fürst in "Narziss und Goldmund".  

Georg Friedrich in "Asphaltgorillas" (2018): Szene auf dailymotion

Einen besonderen Fall stellt Meret Becker dar, die im Fernsehen ein "Tatort"-Star ist, während sie im Kino seit nunmehr 30 Jahren aus meist etwas kleineren Parts große Momente macht, von "Kleine Haie" bis zu "Lügen und andere Wahrheiten" oder zuletzt in "Ostwind - Aris Ankunft". Fünf Mal war sie dafür bereits für den Deutschen Filmpreis nominiert – womit sie einen Rekord hält. 

Meret Becker in "Comedian Harmonists" (1997): Szene auf YouTube

Dann gibt es die Charakterdarsteller*innen, die sich erst mit zunehmendem Alter auf markante Nebenrollen spezialisiert haben. Der im Juli verstorbene Tilo Prückner etwa, mit seinen über 250 Filmen; außerdem Rüdiger Vogler, Michael Gwisdek oder die im Mai verstorbene Irm Hermann – Stars des neuen deutschen Films und der DEFA, später dann höchst gefragte Nebendarsteller*innen bei unterschiedlichsten Produktionen. Was ihre Darstellungen eint, ist die unaufdringliche Souveränität, mit der sie ihre Auftritte gestalten. Sie müssen nichts mehr beweisen, und gerade diese Ausstrahlung macht ihre Auftritte umso effektiver. Wenn sie die Szenerie betreten, besteht natürlich immer die Gefahr, dass die nominellen Stars des Films verblassen – Szenenklau wider Willen. 

Vereinzelt findet man auch noch die großen Kandidaten für ein verlässliches Typecasting, die Nachfolger*innen im Geiste, wenn man so will, von Oskar Sima und "Hubsi" Meyerinck – nur nicht so sehr als Komödianten, sondern eher im Schurkenfach. Sei es der unterkühlte Ralph Herforth oder der undurchschaubare Aleksandar Jovanović: wenn diese Männer vom Rand des Geschehens her auftreten, ist meist nichts Gutes zu erwarten. Mit wenigen Szenen brennen sie sich ins Gedächtnis ein. Ähnlich verhält es sich beim wunderbar schnodderigen Ralf Richter oder bei Thomas Thieme, der mit Vorliebe als Autoritätsperson oder eiskalter Machtmensch besetzt wird. In "Wer wenn nicht wir", über die Vorgeschichte der RAF, braucht er als unbelehrbarer Nazi-Dichter Will Vesper nur eine einzige Szene um nachfühlbar zu machen, gegen welchen Ungeist ihrer Elterngeneration die 68er rebellierten. 

Ralf Richter in der "Unna-Trilogie": Ausschnitte auf YouTube

Solche Parts als "Nebenrolle" zu bezeichnen, wird ihrer Tragweite nicht gerecht. Denn sie sind keine Nebensache, sondern essentieller Bestandteil des dramaturgischen Aufbaus. Im Englischen ist sehr viel treffender von "supporting roles" die Rede – von Rollen also, die man als eine Art Fundament der Geschichte betrachtet. "Tragende Rolle" wäre die deutsche Entsprechung. Sie kommt der tatsächlichen Bedeutung näher und wäre auch im offiziellen Sprachgebrauch, etwa bei Preisverleihungen, wünschenswert. Denn machen wir uns nichts vor: wie oft sind es die beiläufigeren Figuren, die das größte Vergnügen bereiten oder für die emotionalsten Momente sorgen – womit wir wieder bei Gabriela Maria Schmeide in "Systemsprenger" wären. In anderen Fällen tragen solche Rollen und Schauspieler einen Film nicht nur, sie retten ihn. So oder so: Es lohnt sich, genauer hinzuschauen – und sich die Namen zu merken. Sie allein können manchmal den Kauf einer Kinokarte lohnen. 

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