Faust

Deutschland 1925/1926 Spielfilm

Faust


Willy Haas, Film-Kurier, Nr. 242, 15.10.1926


Ist der Faust-Stoff verfilmbar?

"Nein –" wird jeder deutsche Oberlehrer antworten; von wegen Goethe.

"Ja!" werden (wetten?!) morgen sämtliche Filmkritiker erklären und begründen. Von wegen geistreicher Paradoxitis und pour épater le bourgeois auf harmlose, erlaubte Art.

Ich bin, nach aufmerksamer Anschauung dieses sonst sehr schönen Filmes, in die traurige Lage versetzt, den Oberlehrer gegen den witzigen Journalisten verteidigen zu müssen. Der Faust-Stoff ist, wie es scheint, nicht verfilmbar. Und zwar aus einem etwas komplizierten Grund. (...)

Gounod hat aus dem Faust eine Operette gemacht, trotz Goethe. Heine ein Ballet. Der alte Düntzer ein Lehrbuch für höhere Mittelschulen.

Warum also sollte man nicht einen Film daraus machen können?

Weil es sehr schwer ist, so dumm-talentiert zu sein wie Gounod, sehr schwer, so frech-talentiert wie Heine, so stupide zu sein wie Düntzer. Es sind lauter fast unmögliche Grenzfälle. Was dazwischen liegt, erliegt der Angstpsychose, die ein einmal von Goethe geformter Stoff ausstrahlt.

Auch Murnau, der prachtvolle Murnau, auch Kyser, obgleich sich beide mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben, daß der Faustfilm irgend etwas mit Goethes Faust zu tun habe, sind ihr erlegen.

Ich halte heute also den Faust-Stoff für unverfilmbar – – einzig und allein deshalb, weil es heute so unbekümmerte Barbaren bei uns gar nicht mehr gibt, die wirklich aus ihrem Unterbewußtsein die Tatsache ganz ausschalten könnten, daß es einen Goetheschen Faust gibt; das psychologische Hindernis ist also nicht die Pietätlosigkeit, sondern im Gegenteil: die Pietät. (...)

Es ist der große Fehler des Kyserschen Manuskripts, daß es in zwei fast gleichgroße Teile, den Teil "Zauberer Faust" und den Teil "Liebhaber Faust" zerfällt; nicht wegen irgendwelcher Regeln dramaturgischer Mathematik, die hier durchbrochen wurden; sondern wegen der Unmöglichkeit, beide Teile bildhaft-musikalisch gegeneinander zu "temperieren", wie man in der Harmonielehre sagt: Die grundsätzlich unbewegte, gemäldehafte Fassung der magischen Szenen, die erst mimisch fortzubilden, und die grundsätzlich bewegte, dramatische Fassung der Gretchenszenen, die erst in Bildkomposition umzusetzen war. Das Resultat ist: mimische Unfülle der Mephisto-Faust-Szenen, denen die Sorge um die realistische Dramatik das volle Ausschwingen stilmäßiger Schönheit behindert hat. So steht ein nicht erfüllter Film-Veronese in den italienischen, ein nicht erfüllter Film-Dürer und Film-Schwind in den romantischen deutschen Szenen innerlich zusammenhanglos neben dem nicht erfüllten Versuch, einfach die Tragödie eines verführten Mädchens zu verbildlichen. Das reicht tief in das dramatische Wirkungsfeld der Handlung hinein: was dort wirkt, etwa die altdeutsch schwankhafte, unbesorgte Handlungsbuntheit in der Handlungslinie des Mephisto, die rein historisch erfaßte und bloß historisch faßbare tölpelhafte Listigkeit Mephistos, die für unser lebendiges Rechtsempfinden einen ehrlichen Vertrag immerwährend bricht und dadurch ungültig macht, eine ethische Primitivität in der Durchführung der "Wette mit Gott", die auf das alte Mirakelspiel zurückweist: dies alles, was dort als geisthistorisches Kuriosum wirkt, unterbindet hier jede Wirkung, wo ein einfaches Menschenschicksal aus der nächsten Nähe einer unmittelbar plausiblen inneren Gegenwart wirken müßte.

Daß es im einzelnen einen sehr großen, ungeheuer großen Reichtum schöner Details zu bewundern gibt, muß wohl bei einem Film des prachtvollen F.W. Murnau nicht erst hervorgehoben werden. Aber der hohe Rang einer solchen Leistung darf grundsätzliche Auseinandersetzung, und nichts weniger als das, fordern. (...)

Sicherlich: dieser "Faust" ist nicht Murnaus bestes Stück. Aber es ist das unantastbare Vorrecht so bedeutender produktiver Regisseurköpfe, auch einmal ein wenig zu irren. Auch wo er irrt, bleibt er einer der bedeutendsten Filmmenschen der Gegenwart.

Rechtsstatus