St. Pauli Nacht

Deutschland 1998/1999 Spielfilm

St. Pauli Nacht



Rudolf Worschech, epd Film, Nr. 9, September 1999


St. Pauli ist ein Mythos. Jede Stadt hat ihre filmtypischen Viertel und deren auf den ersten Blick erkennbare Zeichen, München hat Schwabing. Frankfurt die Innenstadt mit der Skyline, die Ruhrgebietsstädte ihre Industrieregionen, und Berlin Kreuzberg. Aber St. Pauli. Hamburg – da suggeriert schon der Name Laster, Prostitution, Kriminalität, Gewalt. Für einen Filmemacher bedeutet ein solches Viertel ein geschlossenes System, in dem alles offener zu Tage tritt als anderswo, ein Mikrokosmos, in dem die Verhältnisse zum Tanzen kommen. Hier geht es um elementare menschliche Emotionen, um Liebe, Hass, Verzweiflung, Rache und Tod.

Und dieses Mythos der Gegend rund um die legendäre Reeperbahn hat sich Sönke Wortmann eifrig bedient. "St. Pauli Nacht" hat eine episodische Struktur, keine Hauptfiguren, sondern führt einen ganzen Reigen an Geschichten vor. Und alle Wege kreuzen sich auf dem Kiez, in einer Nacht, zwischen Abend und Morgen. Die erste Person, die auftaucht, ist Brilli, so etwas wie der Pate von St. Pauli, und wir sehen ihn à la Tarantino in einer Riege schwarz gekleideter Männer bei einer Urnenbestattung an der Elbe. "Reservoir Dogs", damit hat einen schon Gwisdek in seinem "Mambospiel" gequält, aber schon die nächste Figur entschädigt: Johnny, gerade aus dem Knast gekommen, hat in einer jungen Bankangestellten etwas "Solides" gefunden, bis ihn ein Telefonanruf an seine Vergangenheit erinnert und er sich auf den Weg zur Meile macht, mit Rasierklinge am Hals-Kettchen, Pilotenbrille auf der Nase und Hemd auf der braunen Lederjacke. Wenn auch seine Recherchen nichts Konkretes ergeben, so wird er doch Zeuge, wie ein nackter, dicker Mann mit einer Pistole herumfuchtelnd Amok läuft.

In einer Rückblende enthüllt sich die Vorgeschichte dieses Amoklaufs, das Schicksal des Postboten Manfred, und weitere Figuren treten hinzu: die Transsexuelle Roberta, die in Brillis Nachtclub auftritt und seine Geliebte ist, das Ehepaar Ulrike und Peter, die den aufgeblasenen Käsefabrikanten Wolfgang mit der Single-Frau Dorit während eines Abends verkuppeln wollen, ein Bodybuilding-Lehrer, der nur "Der Friese" heißt und sich trotz seiner Profession als recht sanft entpuppt, ein junger Informant, der immer nur Mist baut, ein koreanischer Taxifahrer, der u.a. Heiner Lauterbach in einem Cameo-Auftritt durch Hamburg chauffiert.


Wortmann hat diese Geschichten, die nach einem Roman von Frank Göhre entstanden, durchaus gekonnt verschachtelt, elliptisch, mit Mut zu Lücken, zu Sprüngen in der Erzählung und zu Rückblenden. Tarantino auch hier: wie in "Pulp Fiction" wird "St. Pauli Nacht" am Ende die Eröffnungssequenz wieder "einholen". Dem Film fehlt aber etwas ganz Substan-zielles: Offenheit. Alle Personen müssen sich auf Teufel komm raus begegnen, und alles muss ein Ende finden. Auch Robert Altmans "Short Cuts" – dieser Vergleich drängt sich geradezu auf! – endete mit einem urplötzlichen Erdbeben, aber manche Geschichten hätten auch immer so weitergehen können – und wir hätten gerne noch Stunden lang zugesehen. In "St. Pauli Nacht" steuert alles immer aufs Finale hin; Brilli wird Roberta verraten, der Friese und Dorit werden sich finden und Ulrike und Peter trennen – jede Geschichte ein eigenes kleines Melo. "Das Leben ist wie ein Schnitzel, erst wirst du weichgeklopft, dann landest du in der Pfanne", heißt es einmal in diesem Film, und Wortmann scheint dieses Motto laufend beweisen zu wollen.

"St. Pauli Nacht" hat ein beeindruckendes Schauspielerensemble. Benno Fürmann spielt Johnny fast campartig proletig, und Christian Redl fügt seinen vielen stoischen Rollen mit Brilli eine weitere hinzu. Aber auch bei seinen Personen trägt Wortmann – oder die Vorlage? – gerne zu dick auf. Der aufschneiderische und sehr von sich selbst überzeugte Käsefabrikant, gespielt von Peter Sattmann, landet am Ende bei Roberta und legt vor ihr einen Striptease hin, den sie zu bewundern hat – aber wer will schon Peter Sattmann strippen sehen? Der Postbote Manfred, gespielt von Armin Rohde, die tragischste Figur des Films, läuft Amok, weil er ständig gedemütigt wurde. Einbrecher haben seine Wohnung verwüstet, und als er seine Frau anruft, teilt sie ihm mit, dass sie ihn verlassen wird – während sie stöhnend nackt auf einem anderen sitzt. Das ist weder schön geschmacklos noch irgendwie notwendig, sondern einfach nur dumm-brachial. Aber symptomatisch: Tragik, holterdipolter. Da brach sich des Regisseurs Liebe zur Klamotte und zum groben Strich Bahn. Wie leider so oft in diesem Film.


Vielleicht sind Multipersonenfilme mit ihrer episodischen Struktur das Genre des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts; im nächsten Monat wird mit "Five Senses" ein weiterer – kanadischer – Film dieser Art ins Kino kommen. Auch der deutsche Film erzählt in letzter Zeit gern episodisch, Doris Dörrie etwa in "Bin ich schön?" oder Andreas Dresen in seinen "Nachtgestalten". Zwar beteuern die Regisseure von Multipersonenfilmen meist, dass es ihnen nur um die einzelnen Schicksale und Geschichten geht, aber dennoch wirkt ein solcher Film als Ganzes immer wie ein Porträt einer Stadt, eines Landes oder gar einer Generation. Sandra Nettelbeck etwa hat sich in ihrem schönen Berlin-Film "Unbeständig und kühl", der leider nur auf Festivals und nie im Kino lief, für Personen aus einer bestimmten Szene entschieden. Wortmann versucht so etwas wie ein Großstadt-Fresko, und "St. Pauli Nacht" ist sicherlich sein bislang avanciertester Film – nach "Das Superweib" (1996), "Charley"s Tante" (1996) und "Der Campus" (1997) dürfte ein bisschen Ambition aber auch nicht schwer gefallen sein. "St. Pauli Nacht" erinnert an die Stimmung in seinem frühen "Kleine Haie", und es gibt Szenen, in denen Wortmann durchaus Rührung mit Komik zu verbinden versteht. Wenn etwa Armin Rohde in einer Pils-Kneipe von seiner Frau erzählt, die ihn verlassen hat, und die beiden anderen Männer im Raum von Fischbrötchen und anderen Imbissen reden. Solche Momente hätte man sich mehr gewünscht.

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